Meret Schneider: Mehr Meinungsbildung, weniger Mobilisierung

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Es sind Abstimmungen, einmal mehr. Und so sehr ich unsere Demokratie und die damit einhergehende häufige Befragung des Stimmvolkes zu gesellschaftsprägenden Weichenstellungen schätze, so sehr beunruhigen mich jeweils die Kampagnen und Debatten im Vorfeld. Wenn diese Kolumne erscheint, haben wir bereits über das Stromgesetz entschieden und die Plakate und Papierfluten haben sich aus unserem Alltag zurückgezogen wie das Meer nach einer Springflut, die nur leere Muschelschalen, Plastikabfälle und Flaschen zurücklässt, in denen letzte Lebewesen verenden.

Mag dieses Bild etwas drastisch gemalt sein, so trifft es doch das Gefühl, das dieser Abstimmungskampf bei mir hinterlässt, bei dem es weniger um Fakten und Meinungsbildung, als mehr um Schlagworte und Mobilisierung ging. Von Meret nichts Neues, mag man nun denken, Abstimmungskämpfe sind nun mal nicht für ihre fein ziselierten Argumentationsführungen bekannt, das ist mir klar. Doch ein Gespräch, das ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln mitgehört habe (was wäre diese Kolumne ohne die SBB, herzlichen Dank an dieser Stelle), hat mich dennoch nachdenklich gestimmt und zu diesem Artikel bewogen in der Hoffnung, vielleicht den ein oder anderen Gedanken anzustossen, statt nur konsterniert bis zur nächsten Flut durch den verlassenen Schlick zu waten, um doch noch einen Einsiedlerkrebs aus der Flasche zu befreien.

“Naja, bei dieser Abstimmung müssen wir die Leute ja nicht überzeugen. Argumentieren lohnt sich nicht, wir müssen einfach schauen, dass sicher all unsere Leute an die Urne gehen. Mobilisieren, mobilisieren, mobilisieren”, war der Satz, der mich aufhorchen liess. Es folgte ein Gespräch zu Mobilisierungsmassnahmen und mit welchen Szenarien man bequeme Nichtwählerinnen an die Urne bringen könnte, ein bisschen Horrorszenarien zeichnen müsse man, da war man sich einig.

Das erinnerte mich an eine im Februar 2024 erschienene europäische Studie, gemäss der die Angst der Deutschen Bevölkerung vor einer Spaltung der Gesellschaft und einer Ausbreitung des politischen Extremismus[1] im letzten Jahr stark zugenommen hat – und dies, obwohl die heisse Pandemiephase abgeklungen ist.

Und auch an eine des Forschungszentrums Mercator-Forum Migration und Demokratie (Midem) der TU Dresden von 2023 zur affektiven Polarisierung, die einer gefühlten Spaltung der Gesellschaft oft vorangeht[2]. Hohe affektive Polarisierung deutet darauf hin, dass die eigene Meinung emotional aufgeladen und mit Prozessen der Identitätsstiftung, der sozialen Assoziation und Dissoziation sowie mit Abgrenzung zu anderen Gruppen verbunden ist. «Hohe affektive Polarisierung kann somit auch auf ideologische Verhärtungen, auf unzureichendes Verständnis für abweichende Einstellungen sowie auf fehlende Kompromissbereitschaft verweisen. Dann werden demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse erschwert, und ihre Akzeptanz schwindet. Das schadet der Demokratie», betont der  im Artikel dazu zitierte Midem-Direktor Hans Vorländer.

Ein Blick auf die Kampagnen zum Stromgesetz zeigt denn auch eindrücklich, inwiefern politische Debatten im Vorfeld von Abstimmungen Wasser auf exakt die Mühlen der affektiven Polarisierung giessen. Auf beiden Seiten wird mit drastischer Bildsprache emotionalisiert, beide argumentieren mit der Sicherung unserer Stromversorgung, mit Fakten zum Gesetz wird auf der Gegenseite teilweise mehr als nonchalant umgesprungen und das Ziel beider Lager ist es verständlicherweise, die Dringlichkeit, Notwendigkeit und Betroffenheit der Individuen zu kommunizieren. Mobilisieren, mobilisieren, mobilisieren, die Zuggäste hatten durchaus recht und einer politischen Kampagne ist dies auch nicht vorzuwerfen – dazu ist sie da. In Strassengesprächen zum Stromgesetz (dass ich dafür bin, dürfte kaum überraschen) merkte ich jedoch stärker als sonst, wie diese Kampagnen ein sehr instabiles Fundament für eine sachliche Diskussion hinterliessen. Wie nach dem Strandspaziergang nach der Springflut, bin ich erstmal damit beschäftigt, Informationsfragmente, falsche Fakten und Mobilisierungsmüll einzusammeln und zu sortieren, bevor eine absolut legitime Interessenabwägung und Diskussion zum Gesetz stattfinden kann. So lange haben die Menschen aber dann zumeist nicht Zeit – das Kind quengelt, der Rasen will gemäht werden und der Smoker eingeheizt, sonst wird das heute nichts mehr mit den Beefribs. Verständlich, aber problematisch.

Aber wie schaffen wir es, dass unsere grosse Chance der Demokratie, die regelmässigen Befragungen der Bevölkerung, die Bereitschaft zu Diskurs und tatsächlicher thematischer Auseinandersetzung erhöht und nicht wie es aktuell der Fall ist, zu einer Erosion dieser Bereitschaft führt? Klar ist, politische Kampagnen haben die Aufgabe, Menschen zu mobilisieren und für die eigene Sache zu gewinnen. Dass dies am effektivsten durch die Ansprache affektiver Reaktionen und damit verbunden emotionaler Bildsprache funktioniert, ist mittlerweile hieb- und stichfest erwiesen. Damit tragen jedoch die Grundfesten der Demokratie, nämlich der Einbezug der Bevölkerung in gesellschaftliche Fragestellungen zu einer Polarisierung und Verschärfung der Tonalität der jeweiligen Lager bei, wodurch sich die Demokratie ihr eigenes Fundament, die Diskursbereitschaft und das gegenseitige Zuhören und Verstehen Wollen abgräbt.

Dies soll keineswegs als Abgesang auf die Demokratie oder eine Forderung nach weniger Abstimmungen und nüchterner Kampagnen verstanden werden; Abstimmungen sind richtig und wichtig und politische Kampagnen erfüllen durch ihre Art der Kommunikation schlicht ihren Zweck. Nein, die Bewahrung der demokratischen Grundwerte und der Wille zum Verständnis andersdenkender Menschen und Anhören gegensätzlicher Positionen kann tatsächlich nur durch das Bewusstsein um den Wert und die Fragilität der Demokratie selbst geschehen. Und zwar von uns allen, indem wir nicht jede Tickermeldung empört kommentieren, nicht jedes leuchtende Horrorszenario für bare Münze nehmen und prinzipiell nicht jeder Gegenseite per se das Schlechteste unterstellen, sondern die Position mit einem fragenden und nicht im Vornherein ablehnenden Blick auf den Prüfstand stellen. Als Politiker und Politikerinnen können wir dem Vorschub leisten: mittels Podien und Paneldiskussionen, in denen nicht in erster Linie die eigene Wiederwahl, sondern tatsächlich eine gewinnbringende Debatte und eine Erkenntnisoffenheit im Zentrum stehen. Und ja, ich bin tatsächlich der Ansicht, dass gerade in Anbetracht internationaler Entwicklungen das Bewusstsein für den Wert der Demokratie und eines konstruktiven Miteinanders wieder steigen wird. Ich hoffe, dass wir dafür den Boden bereiten, bevor allzu viel davon abgetragen wird, die Zeit dafür ist definitiv jetzt.


[1] https://www.presseportal.de/pm/63400/5716971

[2] https://tu-dresden.de/tu-dresden/newsportal/news/migration-polarisiert-rechte-klimawandel-linke-midem-studie-zeichnet-bild-der-konfliktlinien-europas


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