Wer mich kennt, weiss: Gastronomie ist eine Leidenschaft von mir. Ich habe jahrelang während des Studiums und später auch neben meiner Arbeit als Nationalrätin als Servicekraft, aber auch in der Küche in der Gastronomie gearbeitet und es geliebt. Noch heute verfolge ich Trends in der Gastrobranche mit grossem Interesse, lese die Zeitungen von Gastrosuisse und Hotellerie Suisse und bin regelmässig Gast in dem kleinen Restaurant, in dem ich früher gearbeitet habe und noch heute an Events im Einsatz bin.
Bei der Lektüre eines Artikels in der Gastrosuisse Zeitung zu den Trends 2022 las ich denn auch nicht viel Neues: der Paradigmenwechsel weg von Massenkonsum hin zu individuelleren und differenzierteren Wünschen hat sich ja bereits vor Jahren abgezeichnet und auch die beschriebene “Snackifikation”, also der Wandel von gutbürgerlichen Mahlzeiten hin zu kleineren Portionen, die über den Tag hinweg gegessen werden, ist bereits seit längerem ein Thema in der Branche.
Eine Tendenz, die in ihrer Disruptivität die ganze Gesellschaft durchdringt und nun folglich auch die Gastrobranche erreicht hat, bringt mich jedoch zum Nachdenken. Die Rede ist hier vom sogenannten Digitainment in der Gastronomie. Um die betriebsinternen Abläufe zu optimieren, aber auch um die Kommunikation mit Gästen einfacher und zugleich informativer zu gestalten, wird mittlerweile alles digitalisiert, was digitalisierbar ist – und leider auch vieles mehr.
Von Reservierungssystemen über digitale Gastro-Führer und Bewertungsplattformen bis zur digitalen Speise- und Getränkekarte, die über die Herkunft der Ausgangsprodukte, Allergene und Rezepturen Auskunft gibt und einfaches Feedback ermöglicht. Prozesse sollen effizienter gestaltet und der Restaurantbesuch dadurch noch kundenfreundlicher werden, so die Absicht. Und bereits das Wort “Kunde” hinterlässt bei mir den leicht bitteren Nachgeschmack eines billigen Sake.
Im Restaurant möchte ich nicht Kunde sein. Ich möchte auch keine Effizienz, keine reibungslosen Abläufe und kein einfaches Feedback. Im Restaurant möchte ich Gast sein, ich möchte wahrgenommen werden, ich möchte Reibung und keinesfalls einen optimierten Ablauf. Ich frage den Kellner, ob das Curry sehr scharf sei, statt auf der digitalen Speisekarte die zwei, statt der drei Chillis anzuklicken. Ich warte gern und wenn ein Gericht aus ist, dann ist es so und ich bestelle etwas anderes. In einer perfekt digitalisierten und customizeden Welt freue ich mich im Restaurant auf echte Begegnungen, vielleicht auch mal eine schlechte Laune einer Servicekraft oder aber eine besonders zuvorkommende Bedienung.
Ich freue mich auf das Echte, das Ungeschliffene und die Reibung, die in einem gastronomischen Betrieb entstehen und ihn von einem Apple Store unterscheiden. Viele der beschriebenen Trends begrüsse ich aus vollstem Herzen. Aber bitte lasst uns im Restaurant den Zufluchtsort einer analogen Oase in der immer digitaleren Welt erhalten. Mein Chef im Restaurant meinte jeweils zu mir: “Der Service ist das Herz. Wir verkaufen Wohlbefinden.” Und ich denke, damit ist alles gesagt.
Meret Schneider, Eintrag bei Wikipedia
Meret Schneider, Eintrag auf der Parlamentsseite
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