Müsst ihr Veganer denn alles nachbauen? Wenn ihr keine Chicken Nuggets essen wollt, warum baut ihr sie dann aus Erbsen nach? Es gibt wohl kaum Fragen, die ich so häufig beantworte wie diese. Zwei Fragen, so simpel wie die Antwort: Wir essen keine Hühner, aber wenn dieses Geschmackserlebnis aus Erbsen möglich ist, warum nicht?
Nein, dies ist kein Plädoyer für den Veganismus und kein Abgesang auf das Metzgerhandwerk – ihr könnt erst mal aufatmen. Es ist eine Beobachtung in Bezug auf unseren Umgang mit Pionierinnen und Pionieren, mit Innovation und Unternehmergeist – früher und heute. Dafür werfe ich einen Blick auf zwei Pioniergeschichten, eine aus dem 19., eine aus dem 21. Jahrhundert und beide beginnen in Kemptthal. Ich beginne mit einer Persönlichkeit, die der Lebensmittelindustrie ihren Stempel aufgedrückt hat wie kaum eine andere und der Schweiz zu einer Vorreiterposition auf dem Weltmarkt verholfen hat. Wir begegnen ihr noch heute in gutbürgerlichen Gasthäusern in Form des ikonischen braunen Fläschchens mit der kultigen gelb-roten Etikette: Julius Maggi.
Die Geschichte des Unternehmers beginnt, wie viele Geschichten der Innovation, mit einer Krise. Die sogenannte Transportrevolution im 19. Jahrhundert hatte nämlich auch auf die Ernährungssituation einen grossen Einfluss. Dampfbetriebene Ozeanschiffe und Eisenbahnen ermöglichten es, Getreide und Mehl zu importieren, was sich auf die Versorgung der Bevölkerung zunächst positiv auswirkte. Das importierte, billigere Mehl brachte jedoch die Müllerei in Bedrängnis. Die fallenden Mehlpreise mussten mit grösseren Produktionsmengen kompensiert werden, doch liess sich die Nachfrage nach Brot nicht unbegrenzt steigern und viele Betriebe gingen Konkurs. Nicht so der findige Müller Julius Maggi, der seit 1869 die Hammermühle in Kemptthal betrieb und einen Ausweg aus der Krise nicht über die Steigerung der Produktion, sondern über eine Diversifikation seiner Produkte suchte. Während seine ersten Produkte, die Leguminosenmehle, noch stark an das ursprüngliche Müllerhandwerk erinnerten, verliess er diesen Pfad mit der Erfindung der Suppenwürze und wurde zum Lebensmittelfabrikanten, der sich die Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik zu eigen machte und als Pionier auf dem weiten Feld der Lebensmittelindustrie gefeiert wurde.
Die zweite Geschichte beginnt ebenfalls in Kemptthal und auch hier ist eine Krise der Innovationskatalysator. Wir reden hier aber von einer Krise ganz anderen Ausmasses: der Klimakrise. Unsere Ernährung trägt massgeblich zur globalen Erwärmung bei und die Hauptursache liegt in der massenhaften Produktion tierischer Produkte, die den grossflächigen Anbau von Futtermitteln nötig machen. Wir reden hier nicht von grasfressenden Kühen auf nicht ackerfähigem Grasland, sondern vom immer noch steigenden, futtermittelabhängigen Pouletkonsum und riesigen, nicht standortgerechten Schweineställen. Diese Krise war für die drei Gründer von Planted Anlass, eine Alternative zur klimaschädlichen Pouletmast zu entwickeln und sie machten sich, wie damals Julius Maggi, Verfahren aus der Wissenschaft zu nutze. Mit Hilfe eines Dextruderverfahrens schafften sie es, die Strukturen von Poulet nahezu perfekt zu imitieren. Alle Produkte ähneln der konventionellen Option, und zwar nicht nur in Textur, sondern auch in Geschmacksnuance, Aussehen und Nährwert. Hergestellt werden die Produkte aus Erbsen, Rapsöl und Wasser – ganz ohne künstliche Zusatzstoffe. Damit könnte ein Grossteil des klimaschädlichen Pouletkonsums durch den Konsum von hier heimischen Erbsen ersetzt und damit ein grosser Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise geleistet werden. Und nein, dafür muss niemand vegan werden, Kühe können weiter weiden und auch der Schweizer Käse gerät nicht in Bedrängnis. Inzwischen werden die Produkte bereits mit Erfolg exportiert und wir könnten mehr als Stolz auf die Innovatoren auf dem stark wachsenden Markt sein. Doch was schlägt den Pionieren aus dem Kemptthal stattdessen entgegen? Skepsis, Widerstand und Diskussionen, ob man die Produkte nun Planted Chicken nennen dürfe oder nicht. Da könnten wir uns von der Begeisterung aus der Zeit von Maggi eine Scheibe abschneiden und in der Innovation die Chance erkennen. Noch werden die Produkte nämlich nicht aus Schweizer Erbsen hergestellt, weil hier die Verarbeitungsinfrastruktur für die Herstellung des Proteins fehlt. Eine angemessene Reaktion auf solchen Unternehmergeist wäre es doch, in solche Infrastrukturen zu investieren und für Bauern Anreize zu schaffen, vermehrt Erbsen für den menschlichen Konsum anzubauen. Letzten Endes könnten davon alle profitieren: Bauern, Unternehmer, Konsumierende und sogar Metzger, denn: das Know-How in Bezug auf Würzung und Marinade lässt sich auch auf pflanzliche Alternativen anwenden, wie ich an den besten pflanzlichen Meatballs und Spiesschen in dieser Grillsaison feststellen musste – produziert von der Ustermer Metzgerei Hotz, teilweise mit den pflanzlichen Produkten von Planted aus Kemtpthal.
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