Meret Schneider: Reflektiert ist das neue Ironisch

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Als grosse Freundin alter und neuer Kulturtechniken zur Strukturierung der Zeit, begeisterte Wiederentdeckerin von Ritualen und Etablierung neuer, gewinnbringender Gewohnheiten halten Januar und Februar für mich stets ein Füllhorn spannender Phänomene und Gegenwartsanalysen bereit. Zeit der Vorsätze, Zeit der Reflexion und Zeit des Neubeginns – jedes Jahr erwarte ich mit der Spannung, mit der man auf die neue Folge einer Serie wartet, deren Charaktere einem ans Herz gewachsen sind, womit dieses Jahr neu begonnen und wieder einmal aufgehört wird.

Eisbaden, Journaling, Jammerfasten, Koffeinfrei, Dry-,  Vegan-, Wasauchimmer – January – die Möglichkeiten, den Alltag und den eigenen Konsum zu strukturieren und zu überdenken sind mannigfaltig. Inputs hole ich mir dabei in Alltagsgesprächen mit Menschen (wer gerade eine neue Gewohnheit – gern “Habit” genannt – etabliert, wird des Erzählens darüber meist nicht müde), aber auch in Büchern Podcasts und Feuilletonartikeln, die oft auch für mich Interessantes, Auszuprobierendes bereithalten.

In genau so einem Podcast wurde denn auch über Vorsätze und Konsummuster gesprochen, eigenes Verhalten reflektiert und Neues in Erwägung gezogen. Ein auffallendes Phänomen im Diskurs, dem ich darauf im Alltag wiederholt begegnete, war jenes des “reflektierten Konsums” oder auch des “bewussten Konsums”. Damit ist nicht die einst Hochkonjunktur feiernde Achtsamkeit gemeint, sondern der Konsum problematischer, stigmatisierter Produkte im Wissen um deren Problematik. In einer Zeit, in der wir als Gesellschaft wissen oder zumindest die Möglichkeit haben, uns dieses Wissen zu erwerben, dass Billigfleisch mit Tierqual verbunden ist, Kreuzfahrten den Klimawandel befeuern und Thunfische überfischt sind, konsumiert man diese Produkte “bewusst” oder “reflektiert”. Diese Art des Konsums wurde als positiv konnotierte Möglichkeit herausgearbeitet, sich von der “blind konsumierenden Masse”, die sich der gesellschaftlichen und klimatischen Probleme nicht bewusst ist und unreflektiert Tiefkühl-Thunfischpizza kauft, zu distanzieren und dennoch dem Genuss der Produkter zu frönen.

Ich fühlte mich erinnert an die Zeit der WG-Partys, in denen mit fortschreitendem Abend und Alkoholpegel gern auch einmal Abba oder DJ Bobo gehört wurde – natürlich ironisch. Oder an Studienkolleginnen, die Bachelor, Germanys Next Topmodel und Konsorten schauten – selbstverständlich ironisch. Man bringt damit die eigene Elaboriertheit zum Ausdruck, indem man auf das Wissen um die Problematik oder die Trashhaftigkeit der Kulturprodukte hinweist, diese aber auf einer Meta-Ebene dennoch verfolgt und konsumiert. In diesem Zusammenhang möchte ich in eigener Sache einschieben, dass ich völlig unironisch gern DJ Bobo höre und ihn damit aus der Trash-Schublade auf ein ihm viel zu selten gewährtes Podest hebe, aber das wäre ein anderer Text. Was bei Kulturprodukten wie Bachelor gut funktioniert  – sie quasi als Guilty Pleasure, ironisch, auf einer Meta-Ebene zu schauen – funktioniert bei Konsumgütern des täglichen Lebens aber nicht.

Reflektiert verspiesene Thunfisch-Sushi sind um keinen Zentimeter ozeanverträglicher als die unbewusst gekaufte Tiefkühl Pizza Tonno und das Wissen um die Problematik des Konsums macht diesen zwar nicht besser, aber scheinbar gesellschaftlich akzeptierter. Man “gönnt” sich zwei mal im Jahr Ferien mit dem Flugzeug, selbstverständlich reflektiert. Man “entsagt” sich die Stopfleber nicht gänzlich, sondern konsumiert sie bewusst – Verzicht ist im gesellschaftlichen Bildungsbürgertum so unpopulär wie die Zugehörigkeit zum “unreflektiert konsumierenden” TK-Pizza-Pöbel. Das Resultat des Verhaltens ist jedoch dasselbe. Die Reflexion des Verhaltens scheint der Ablasshandel für Atheisten zu werden: Du kannst dich egoistisch, umweltschädlich und problematisch verhalten – aber bitte reflektiert. Diese Beobachtung hat meines Erachtens jedoch nicht nur Konsequenzen für unseren Umgang mit Reflexion und Verhalten, sondern auch für Kampagnen und gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die anzustreben wären.

Offenbar scheinen das Wissen um die Problematik von Verhalten und das Stigmatisieren von Produkten (Stopfleber, Käfigeier) nicht zu einer umgreifenden Verhaltensänderung zu führen, solange der Verzicht darauf ebenfalls als genussfeindlich und moralinsauer stigmatisiert ist. In zukünftigen Kampagnen für ein ressourcenschonenderes Verhalten und mehr Tierwohl müsste es also weniger um nüchterne Informationsvermittlung und schreckliche Bilder von Umweltkatastrophen gehen, sondern womöglich um das Framing von alternativen Optionen als attraktivere Möglichkeiten des Konsums im hedonistischen Sinne. Mit dieser Beobachtung bin ich sicher nicht die Erste, doch scheint es mir ein Versuch wert, in Zukunft verstärkt auf positive Lebensentwürfe im Einklang mit natürlichen Ressourcen zu fokussieren und weniger auf sterbende Delfine als Beifang. Ansonsten, fürchte ich, konsumieren uns die Menschen weiter die Ozeane leer – natürlich reflektiert.


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