Meret Schneider: Serendipität statt Algorithmen!
Es war ein harter Aufschlag nach der Nicht-Wiederwahl in den Nationalrat, der mich zu einer Neuorientierung zwang. Milizparlament hin oder her, letzten Endes verbringt man als Nationalrätin doch den Grossteil seiner Zeit damit, sich in Geschäfte einzuarbeiten, Anträge und Vorstösse zu formulieren, für die eigenen Anliegen zu lobbyieren und sich mit den diversen Interessengruppen und Fachgremien auszutauschen – zumindest, wenn man auf Dossierfestigkeit wert legt.
Nachdem mir dieser tragende Pfeiler meines Selbstverständnisses und Alltags so unverhofft weggebrochen war, musste ich mich zwangsläufig fragen, wohin mich mein künftiger Weg führen sollte und in welchem Bereich ich tätig werden könnte, um meine Herzensanliegen wie den Tierschutz und eine nachhaltige und faire Landwirtschaft für Umwelt und Bäuerinnen und Bauern weiter zu verfolgen – auch ohne politisches Mandat. Letzten Endes war diese Phase der Neuorientierung eine der wichtigsten und lehrreichsten meines Lebens: Ich traf mich mit Menschen aller politischen Gesinnungen und Gesellschaftsschichten zum nicht zweckgebundenen Austausch, liess mich von einer interessanten Begegnung zur nächsten spannenden Veranstaltung treiben und hörte mich offenen Ohres nach Möglichkeiten des Engagements und Berufsperspektiven um.
Letztlich war es dann auch eine Verknüpfung menschlicher Begegnungen, Zu- und Glücksfälle, die mir zu meiner neuen Stelle als Projektleiterin beim Kampagnenforum verhalfen, die mich nun so zufrieden und glücklich macht, dass ich des Öfteren einfach nur dankbar zu Bett gehe und mich Abends frage, wie ich diese glückliche Fügung und die Bekanntschaft mit so viel spannenden Menschen dort verdient habe. Aber genug der romantischen Verklärtheit – ich finde für diese aktuelle Stimmung zur Zeit einfach keine anderen Worte, tut mir leid. Abstrahiert von dieser Situation bin ich dabei auf einen Begriff gestossen, der in meinem Leben bisher so gar keine Rolle gespielt hat.
Der Begriff nennt sich Serendipität und bezeichnet einfach ausgedrückt die Situation, Wichtiges zu finden, das man gerade nicht explizit gesucht hat. Der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822–1895) sprach in diesem Zusammenhang vom “vorbereiteten Geist”, der für unverhoffte Entdeckungen empfänglich sei, und verwies auf die Fülle von Zufallscoups aus Wissenschaft und Technik. Der Ausdruck “vorbereiteter Geist” beschreibt meine Situation insbesondere so präzise, als ich in dieser Phase zum ersten mal nicht stringent von A nach B marschierte – Schule, Studium, Arbeit, Politik – sondern inne hielt und gefühlt “das Leben geschehen liess” und neugierig und offen dem begegnete , was sich mir zutragen möge. Ohne es zu wissen, habe ich damit die sehr wichtige Voraussetzung geschaffen, damit Serendipität überhaupt eine Chance erhält. In der Auseinandersetzung mit der Thematik, die mich in die Serendipitätsforschung und Verhaltensökonomie abdriften liess, stiess ich auf eine Reihe an Serendipitätsforschern verschiedener Disziplinen, darunter Psychologen, Soziologen und Verhaltensökonomen, aber auch Medien- und IT-Experten.
In einer Literaturübersicht von 2015 resümiert der Informationswissenschaftler Naresh Agarwal beispielsweise, Serendipität basiere vor allem auf zwei Faktoren: “preparedness” und “noticing” – also für den Wink des Zufalls bereit zu sein und ihn im richtigen Augenblick zu bemerken.
Die Auslöser, so entnahm ich einem Artikel im Magazin “Spektrum der Wissenschaft”, seien in der Regel eher unspektakulär, eine beiläufige Beobachtung oder eine kleine Anomalie, auf die die so genannte Inkubation folge. Diese Phase der unbewussten Verarbeitung führe schließlich – und zwar oft in ganz unerwarteten Momenten – zu einer neuen Erkenntnis.
Dies erleichtern und ermöglichen offenbar bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Menschen, die oft von Serendipität profitieren und daraus einen Nutzen ziehen, charakterisieren gemäss einer Studie vor allem drei Dinge: Sie lassen sich leicht auf Abwege führen, entscheiden schnell, was sie interessiert und was nicht, und sie haben keine Angst zu scheitern. Neugier, Flexibilität und Frustrationstoleranz sind demnach die Kernkompetenzen der Glückspilze. Auch eine gewisse Gelassenheit sei von Nöten, um dem unverhofften Eintreten positiver Ereignisse eine Chance zu geben, bzw. diese überhaupt zu bemerken. Banal formuliert lässt sich das in meinem unwissenschaftlichen Alltagsduktus in folgendes Bild fassen: Wer schnurstracks von A nach B ins Gartencenter marschiert, wird all die Blumen und Pflanzen am Wegesrand nicht bemerken – geschweige den das bunte Feld zum Selberpflücken.
Retrospektiv muss ich sagen, dass ich bisher primär schnurstracks in Gartencenter marschiert bin und dort erwartbarer weise auch stets gefunden habe was ich suchte: sei es ein Bonsai oder Tomatensamen – ich kannte das Angebot und wusste genau, was ich wollte. Dass möglicherweise am Wegesrand ein Mohnblumenfeld blühte oder ich an einem Wagen junger Tomatensetzlinge des Bauern von Nebenan vorbei rauschte, hätte ich mit Sicherheit verpasst. Und ja, unsere heutige Gesellschaft begünstigt dieses Verhalten schliesslich auch: Zielorientierung und Stringenz werden belohnt, Lücken im CV mit Argusaugen beäugt und bedürfen zumindest einer wasserdichten Legitimation. Selbst im Kleinen wird durch die unseren Alltag immer stärker durchdringenden Algorithmen, die unsere Auswahl determinieren und Einschränken, der Zufall seiner Kraft beraubt. Songvorschläge basierend auf meinen Hörgewohnheiten, Werbungen aufgrund der zuletzt gekauften Produkte, Filmvorschläge aus dem Genre des zuletzt gesehenen Films: komplett Neues betritt immer seltener unser Gesichtsfeld.
Dies ist keineswegs ein Plädoyer dafür, orientierungslos durchs Leben zu taumeln oder gesetzte Ziele nicht auch gegen Widerstände zu verfolgen – letzteres ist meines Erachtens für ein zufriedenes Leben unabdingbar. Es ist viel mehr ein Plädoyer für eine gewisse Offenheit, Gelassenheit und das bewusste Abweichen von bewährten Pfaden, Umschauen nach unerwarteten Optionen und ja – vielleicht auch dafür einmal mehr einen entfernten Bekannten, statt Netflix nach Filmempfehlungen zu fragen.
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