Mit zu viel Optimismus in die Selbstständigkeit
Basel – Autonomie ist ein Gut, das die Menschen schätzen. Wer im Arbeitsalltag unabhängig sein will, macht sich selbstständig. Dieser Schritt zu mehr Freiheit trägt letztlich zu mehr Lebenszufriedenheit bei. Aber gehen die vielen Erwartungen an die selbständige Tätigkeit auch in Erfüllung? Dem sind Forschende der Universität Basel nachgegangen.
Wie zufrieden mit ihrem Leben sind Personen, die den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit wagten? Diese Frage hat ein Forscherteam um Prof. Dr. Alois Stutzer von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel im Rahmen einer Studie untersucht. Die Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler im «Journal of Behavioural and Experimental Economics».
Sie werteten national repräsentative Längsschnittdaten für Deutschland aus. Für die Datenerhebung hatten die Teilnehmenden unmittelbar nach dem Eintritt in die Selbstständigkeit allgemeine Vorhersagen über ihre künftige Lebenszufriedenheit gemacht und wurden später wieder befragt. Stutzer und seine Kollegen verglichen die Erstaussagen mit den Aussagen derselben Personen fünf Jahre später. «Wir wollten der Qualität der Voraussagen nachgehen und gewissermassen einen Realitätsabgleich machen», sagt Alois Stutzer.
Da die sozialen Normen und die Bewertung von Unternehmertum in der Schweiz und Deutschland ähnlich seien, liessen sich die Erkenntnisse auch auf die Schweiz übertragen, so der Professor für Politische Ökonomie. «Die Frage nach der gegenwärtigen Lebenszufriedenheit ist in solchen Erhebungen zwar Standard, die erwartete Zufriedenheit wird jedoch selten erfragt», erklärt Stutzer die Vorzüge der verwendeten Daten.
Der «Workload» wird unterschätzt
Die Erkenntnis: Personen, die sich für die Selbstständigkeit entscheiden, überschätzen im Durchschnitt ihre künftige Lebenszufriedenheit. Dies gilt auch für erfolgreiche Unternehmer oder Unternehmerinnen, die nach fünf Jahren noch im Geschäft sind. Man kann also nicht sagen, dass Personen, die allzu euphorisch starten, die Situation falsch einschätzen und eher scheitern.
Als Grund für die Diskrepanz zwischen erwarteter und tatsächlicher Lebenszufriedenheit sieht Stutzer, dass Neu-Selbstständige im Vorfeld mehr Gewicht auf die positiven Aspekte wie das erhoffte höhere Einkommen oder den Zuwachs an Autonomie legten. Tatsächlich nimmt denn die geäusserte Arbeitszufriedenheit auch zu. Gleichzeit sinkt jedoch die Zufriedenheit mit der Freizeit.
Insbesondere die Arbeitsbelastung überschreitet oft das gewünschte Niveau. Der unerwartet hohe «Workload» wirkt sich unweigerlich auf andere Lebensbereiche aus: «Soziale Kontakte zu pflegen, braucht eben auch Zeit», sagt Alois Stutzer. «Solche Aspekte werden in den Überlegungen oft vernachlässigt, während Faktoren, die eng mit der Arbeit verknüpft sind, ein grösseres Gewicht erhalten.» Er empfiehlt daher, nicht nur einen Businessplan zu erstellen, sondern auch einen Lebensplan. Und er rät, sich bewusst zu machen, welche Motive und Ziele eine Selbstständigkeit erstrebenswert machen. «Bei Entscheidungsmodellen sind die Erwartungen generell wichtig. Die Erwerbssituation zu ändern ist eine anspruchsvolle Entscheidung.»
Lerneffekt durch enttäuschte Erwartungen
Machen sich also zu viele Menschen selbstständig, weil sie zu optimistisch sind? Gemäss den Forschenden lässt der empirische Rahmen der Studie darüber keine einfachen Folgerungen zu. «Vermutlich hätten einige den Schritt nicht gemacht, wenn sie die Zukunft realistischer eingeschätzt hätten», sagt Stutzer. Das lasse sich aber nicht belegen.
Möglicherweise gibt es Lerneffekte durch die enttäuschen Erwartungen, so mutmassen die Forschenden. Wenn die Betroffenen sich das nächste Mal auf ein unternehmerisches Projekt einlassen, dann sind ihre Erwartungen realistischer. Oder sie sind zufriedener, wenn sie in ein Angestelltenverhältnis zurückkehren, weil sie dessen Vorzüge wie ein sicheres Einkommen und regelmässige Arbeitszeiten möglicherweise mehr schätzen.
Die individuelle Perspektive der Untersuchung lässt zudem ausser Acht, welche Auswirkungen der Überoptimismus auf die geleisteten Innovationen und damit auf andere Arbeitnehmer und die Gesellschaft haben: Sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Unternehmer könnten zur Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen beitragen und damit positive sogenannte Spillover-Effekte in der Gesellschaft erzeugen. «Das Engagement in der Selbständigkeit hat sich vielleicht für den Einzelnen weniger gelohnt als erwartet, dafür können andere von der Arbeit profitieren und darauf aufbauen», erläutert der Ökonom. (Universität Basel/mc/ps)
Originalpublikation
Reto Odermatt, Nattavudh Powdthavee, and Alois Stutzer (2021).
Are Newly Self-Employed Overly Optimistic About Their Future Well-Being? Journal of Behavioural and Experimental Economics, 95, 101779.
doi.org/10.1016/j.socec.2021.101779