Myriam Denk, Leiterin Future of Work bei Deloitte Schweiz, im Interview

Myriam Denk, Leiterin Future of Work bei Deloitte Schweiz, im Interview
Myriam Denk, Leiterin Future of Work bei Deloitte Schweiz. (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Frau Denk, welches sind die grössten Herausforderungen für den Schweizer Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren?

Myriam Denk: Einerseits verändern sich aufgrund der Automatisierung die Kompetenzanforderungen auf dem Arbeitsmarkt ständig, was laufende Anpassungen bei der Aus- und Weiterbildung erfordert. Andererseits führt der demographische Wandel und die Überalterung der Gesellschaft zu einer Verschiebung beim Arbeitskräfteangebot. Zusammen birgt dies die Gefahr, dass es auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zu einem Mangel an Arbeitskräften kommen wird. Entgegenwirkende Massnahmen wie die Erhöhung des obligatorischen Rentenalters oder die verstärkte Zuwanderung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte sind aktuell politisch nicht mehrheitsfähig.

Sie regen in der Studie «Die Stimme der Arbeitnehmer in der Schweiz» an, das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen. Um wen handelt es sich bei der «stillen Reserve»?

Genau: Wir sehen in dem bestehenden aber untergenutzten Arbeitskräftepool ein enormes Potenzial. Dieses liegt hauptsächlich bei der «stillen Reserve» und bei den Erwerbstätigen, die Teilzeit arbeiten und ihr Pensum erhöhen könnten. Die «stille Reserve» umfasst zwei Gruppen. Die erste Gruppe besteht aus arbeitssuchenden Personen, die jedoch zurzeit nicht verfügbar sind, sei es etwa infolge familiärer Gründe oder einer Ausbildung. Laut dem Bundesamt für Statistik waren dies im Jahr 2017 rund 63’000 Personen.

Die zweite Gruppe ist mit 198’000 Personen deutlich grösser. Sie umfasst die Personen, die nicht aktiv nach Arbeit suchen, grundsätzlich aber gerne erwerbstätig wären und verfügbar sind. Fast die Hälfte davon sind über 55 Jahre alt, viele von ihnen haben auch bereits das Rentenalter erreicht und sind wegen der Pensionierung nicht mehr aktiv auf Arbeitssuche, könnten sich aber vorstellen zu arbeiten. Mit 60% ebenfalls deutlich übervertreten sind Frauen. Bei ihnen sind vor allem familiäre Gegebenheiten ausschlaggebend dafür, dass sie nicht aktiv nach Arbeit suchen.

«Ein Drittel der befragten Führungskräfte in Schweizer Unternehmen nimmt ältere Arbeitnehmer als Wettbewerbsnachteil wahr.»
Myriam Denk, Leiterin Future of Work bei Deloitte Schweiz

Nicht nur, aber besonders gegenüber älteren Arbeitnehmern, bestehen aber nach wie vor viele Vorurteile…

Allerdings. Gemäss den Human Capital Trends 2018 von Deloitte nimmt ein Drittel der befragten Führungskräfte in Schweizer Unternehmen ältere Arbeitnehmer als Wettbewerbsnachteil wahr. Das ist deutlich mehr als der internationale Durchschnitt von 20%. Vorurteile reichen von fehlender Motivation über zu geringe Flexibilität bis hin zu veralteten Fachkenntnissen. Man muss von diesen Vorurteilen und Klischees wegkommen, dass ältere Arbeitskräfte nicht lernfähig und flexibel sind, die Praxis belegt häufig das Gegenteil. Das ist nicht eine Frage des Alters, sondern eine der Mentalität.

Ihre Studie zeichnet ein ganz anderes Bild der älteren Arbeitnehmer. Was zeigen die Resultate auf?

Das stimmt. Unsere Studie zeigt, dass ältere Arbeitskräfte nicht nur überdurchschnittlich viel ungenutztes Arbeitspotenzial aufweisen, sie sind auch überdurchschnittlich qualifiziert und motiviert. 85% der Schweizer Befragten aus der Alterskategorie 55+ fühlen sich motiviert bei der Arbeit, 89% mögen ihre Arbeit und 81% denken, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird. Das sind alles höhere Zahlen als bei den anderen Altersgruppen. Und motivierte Mitarbeiter sind einerseits loyaler gegenüber ihrem Unternehmen und andererseits sind sie eher bereit, in ihre Weiterbildung zu investieren.

Auch sind Produktivität und Lernfähigkeit bei älteren Arbeitnehmern nicht tiefer als in anderen Alterskategorien. Warum stellen viele Unternehmen meist dennoch 25 bis maximal 40Jährige ein?

Das hat unter anderem mit den erwähnten Vorurteilen und mit den Kosten zu tun. Unternehmen sollten in der Tat ihre Personalstrategie und -planung, Arbeitsplatzrichtlinien und Führungsansätze für ein längeres Erwerbsleben überdenken. Ältere Arbeitskräfte sollten dabei verstärkt im Mittelpunkt stehen.

Andererseits sollten auch ältere Arbeitnehmer ihren Part leisten, diese kulturellen Hürden abzubauen: So sind zum Beispiel viele in der 55+ Altersgruppe bereits (früh)pensioniert, so dass sie nicht aktiv auf Arbeitssuche sind – aber sie könnten sich durchaus vorstellen, zu arbeiten. Um die Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer auf einem hohen Niveau zu halten, sollten sie sich bei Gehaltsvorstellungen und Arbeitszeiten flexibel zeigen.

«Unternehmen sollten ihre Personalstrategie und -planung, Arbeitsplatzrichtlinien und Führungsansätze für ein längeres Erwerbsleben überdenken.»

27% der heute über 50-Jährigen möchten sogar über das Rentenalter hinaus arbeiten. Welche Modelle stellen sie sich dabei vor?

Gemäss Befragung möchte rund die Hälfte so weiterarbeiten wie bisher, etwas mehr als ein Drittel möchte die Arbeitsstunden reduzieren und 12% möchten als Freelancer oder Selbständiger weiterarbeiten, sobald sie eine Rente beziehen können. Diese Befunde bestätigen, dass ältere Erwerbstätige bezüglich den Arbeitszeitpensen flexibler sind, als von vielen Arbeitgebern angenommen. Bieten Unternehmen ihren Mitarbeitenden eine Vielzahl von Arbeitsmodellen, kann die Partizipationsrate sowohl von Älteren, als auch von anderen Arbeitsgruppen erhöht werden.

Neue Arbeitsmodelle wären entsprechend gefordert?

Ja, damit Arbeitgeber für weitere Arbeitsgruppen attraktiver werden. Neue Karrieremodelle sollten es den Arbeitskräften ermöglichen, länger und flexibler erwerbstätig zu bleiben. Mögliche Ansätze zugunsten der älteren Mitarbeiter sind hier zum Beispiel eine Bogenkarriere – bei denen Arbeitsbelastung, Verantwortung und Entlohnung schrittweise reduziert werden –, Job-Sharing mit jüngeren Nachfolgern zum Wissenstransfer, oder die Möglichkeit, eine Rolle als Coach oder Mentor einzunehmen. Denkbar wäre auch, einen Pool von interessierten pensionierten Arbeitskräften zu bilden, um deren Know-how bedarfsorientiert zurück ins Unternehmen zu holen.

In der Studie nennen Sie als alternatives Karrieremodell für über 55-Jährige sogenannte «Bogenkarrieren». Um was für eine Karriereform handelt es sich dabei und was sind ihre Vorteile?

Bei der Bogenkarriere handelt es sich um ein Modell, bei dem der Angestellte im letzten Berufsabschnitt das Arbeitspensum sowie den Lohn schrittweise reduziert. Das Know-how und die Wissensträger können so zielgerichteter und länger ins Unternehmen eingebunden werden und die Arbeitnehmer können auf eine flexible Weise weiter erwerbstätig bleiben. Die Idee der Bogenkarriere existiert schon lange, allerdings wird sie bis anhin eher selten umgesetzt. Wir beobachten aber verschiedene Unternehmen im internationalen Markt, und auch einige im Schweizer Markt, die dieses Modell eingeführt haben.

Die Unternehmen sind also gefordert, die Altersfrage zu überdenken. Was sollten dabei die zentralen Massnahmen und Rahmenbedingungen sein?

Erstens müssen die angemessenen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dies kann beispielsweise einen ergonomischeren Arbeitsplatz oder zeitliche Flexibilität zur Betreuung der (Enkel-) Kinder bedeuten. Zweitens, wie gerade erwähnt, sollten neue Karrieremodelle es ermöglichen, länger und flexibler erwerbstätig zu bleiben. Ausserdem ist der HR-Prozess von den Ausschreibungen über die genutzten Recruiting-Kanäle bis hin zum Interviewprozess zu überdenken und so zu gestalten, dass ältere Arbeitsnehmende nicht systematisch benachteiligt werden. Die Führungskräfte sollten aktiv eine integrative Kultur mit einer vielfältigen Belegschaft schaffen und vorleben, die es auch älteren Erwerbstätigen ermöglicht engagiert und effizient zu arbeiten.

«Arbeitgeber und -nehmenden muss bewusst sein, dass aufgrund der immer kürzer werdenden Halbwertszeit ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens kontinuierliches Lernen essentiell ist, um ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten oder auszubauen.»

Als weitere aus den Herausforderungen abgeleitete Handlungsempfehlung an die Unternehmen nennen Sie, die Digitalisierung ernst zu nehmen. Was meinen Sie damit konkret?

Digitale Geräte und Technologien haben die Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Die Digitalisierung erfordert ständig neue Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt. Karrieren verlaufen selten noch lebenslang und linear, und stattdessen dynamisch, mehrstufig und mehrdimensional. Arbeitgeber und -nehmenden muss bewusst sein, dass aufgrund der immer kürzer werdenden Halbwertszeit ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens kontinuierliches Lernen essentiell ist, um ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten oder auszubauen.

Die Digitalisierung sollte weder unter- noch überschätzt werden. Damit meine ich, dass wir uns in Zukunft nicht zurücklehnen können, weil die Roboter für uns arbeiten werden, wir sollten jedoch auch nicht pessimistisch davon ausgehen, dass wir aufgrund der Digitalisierung keine Arbeit mehr finden werden.

Gerade im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist das lebenslange Lernen wichtiger denn je. Wie sieht es hier mit der Bereitschaft der Arbeitsnehmenden in den verschiedenen Altersklassen aus?

Gemäss unserer Befragung hat sich in den letzten zwölf Monaten knapp ein Drittel der Schweizer Erwerbstätigen nicht weitergebildet. Dabei haben wir festgestellt, dass ältere Arbeitsnehmende im Vergleich zu den jüngeren tendenziell weniger Lernbarrieren haben. Am meisten Mühe bereitet der Generation 55+ die fehlende Beratung, in welchem Themengebieten sie sich weiterbilden sollen. Die Unter-35-Jährigen haben laut einer Selbsteinschätzung vor allem zu wenig Zeit und kein unterstützendes Arbeitsumfeld.

Um Arbeitsnehmende bestmöglich auf die Entwicklungen der Zukunft vorzubereiten, sind neben dem Staat auch die Arbeitgeber gefragt: Sie sollten ihre Mitarbeiter sensibilisieren, unterstützen und Weiterbildungen aktiv fördern. Aber auch wir als Arbeitnehmer müssen mehr Eigenverantwortung für die eigene Zukunft und Berufskarriere übernehmen und auch dazu bereit zu sein, selbst stärker in Weiterbildung zu investieren.

Frau Denk, besten Dank für das Interview.

Zur Person:
Myriam Denk ist Partnerin bei Deloitte Schweiz und leitet die «Future of Work» Solution und das Human Capital Team in Consulting. Sie ist spezialisiert in der Führung von grossen Transformations- und Organisationsprojekten, in der Organisationsgestaltung, in Kulturveränderungsprojekten sowie in technologiegestützten HR-Transformationen.

Deloitte
Studie «Die Stimme der Arbeitnehmer in der Schweiz»

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