Nachgefragt & Aufgeklärt: Digitale Transformation und Demokratisierung

Nachgefragt & Aufgeklärt: Digitale Transformation und Demokratisierung

Oliver Fiechter und Helmuth Fuchs werfen einmal pro Woche Fragen auf und suchen Antworten zu Themen der digitalen Transformation und Ökonomie 3.0.

Helmuth Fuchs: Anonymous und andere Hacker haben am letzten Wochenende schwedische Behörden und Banken massiv attackiert. Das Blockieren von Servern missliebiger Unternehmen mit massenhaften Anfragen (DDoS Attacken) gehört mittlerweile zum Alltag. Missbrauch der Freiheit oder legitimes Mittel?

Oliver Fiechter: Beides zugleich. Oder keines von beiden. Bei dieser Frage geht es um Internetethik. Und im Zusammenhang mit Anonymous lässt sich diese Frage nicht beantworten, sie stellt sich nicht einmal. Anonymous muss sich nicht rechtfertigen für das, was Anonymous tut.

Wie bitte?

Anonymous ist keine politische Bewegung. Auch wenn die Netzaktivisten in ihren Propagandavideos gerne mit Wörtern wie digitales Sit In, Unterdrückung, Idealismus und Freiheit hantieren und viele Menschen in Anonymous eine koordinierte Bürgerbewegung sehen, ist sie nichts von alledem. Prinzipiell kann jeder im Namen von Anonymous agieren. Anonymous ist kein formaler Verein, Anonymous ist keine juristische Person, Anonymous ist ein hierarchie- und gesichtsloses Kollektiv ohne Zielkonsens. Mit einer autonomen, voraussetzungs- und wertefreien Organisation lässt sich nicht über Ethik und Verantwortung debattieren.

«Das World Wide Web bringt jeden mit jedem zusammen, es vermag kleine Anliegen zu bündeln, zu strukturieren und diesen Anliegen Gewicht zu verleihen.»

Aber Anonymous rechtfertigt ihre Attacken oft mit der Aussage «das Internet gehört uns». Wer ist mit «uns» gemeint?

Wir alle, die 99 Prozent-Gesellschaft, die nicht in Saus und Braus lebt und sich von Wachstum und Wohlstand abgekoppelt fühlt. Das Internet verwandelt unsere Welt in ein globales Dorf, physische Distanzen werden virtuell aufgehoben. Das World Wide Web bringt jeden mit jedem zusammen, es vermag kleine Anliegen zu bündeln, zu strukturieren und diesen Anliegen Gewicht zu verleihen. Für viele Menschen ist das Internet weit mehr als nur ein technisches Hilfsmittel zur Gestaltung von Informationsaustausch und Kommunikation, es ist zum Symbol geworden für die Einlösung ihrer Grundrechte, insbesondere dem Grundrecht auf Informationsfreiheit.

Das «Bullying» scheint auch im Internet zu blühen. Privatpersonen werden mit Photos und Videos blossgestellt, eine Armada von Rechtsanwälten versucht wegen missbräuchlicher Bildverwendung mit unsinnig hohen Strafandrohungen einen neuen Geschäftsbereich zu etablieren und Regierungen ziehen gegen Tauschbörsen ins Feld. Hat die Idee eines nur mässig regulierten Raumes zum freien Austausch von Ideen und Informationen versagt?

Ideen versagen nicht, nur Menschen. Das Internet ist ein scharfes Messer, wir beginnen allmählich zu lernen, wie wir es bedienen können, ohne uns damit in die Hände zu schneiden. Das Internet hat einen immensen Einfluss auf alles, und zwar nicht auf soziale Strukturen und wirtschaftliche Prozesse allein, sondern auf das Grundverständnis der Menschheit per se.

«Mit dem Internet haben wir eine Welt erschaffen, in der sich die Bipolarität zwischen Realität und Fiktion, Analogie und Digitalität auflöst und in einer „Unio Mystica“ verschmilzt.»

Wie meinen Sie das?

Vergegenwärtigen wir uns mal wie das Internet den Menschen innerhalb weniger Jahrzehnte verändert hat, ihn transformierte. Über unsere analoge Welt legt sich seit den Anfängen des digitalen Zeitalters eine Meta-Ebene, eine virtuelle Welt. Bis vor kurzer Zeit waren die Schnittstellen dieser zwei Welten, das Eintauchen in die digitale Welt nur punktuell und „ortsgebunden“ möglich, heute tragen wir bereits die Schnittstelle dank mobilen Endgeräten nahezu immer mit uns. Mit dem Internet haben wir eine Welt erschaffen, in der sich die Bipolarität zwischen Realität und Fiktion, Analogie und Digitalität auflöst und in einer „Unio Mystica“ verschmilzt. Unsere Werte und unsere Gesetze müssen im Hinblick auf diese neue Gesellschaftsordnung neu gedacht werden.

Sie fordern also eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Internet?

Ja, unsere gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Prozesse und Strukturen werden durch moderne Technologien schon heute neu definiert, geformt und strukturiert, unsere sozialen Interaktionen und jeder Aspekt unseres persönlichen Lebens ist diesem Wandel unterworfen. Das World Wide Web macht aus dem „kleinen Mann“ einen „Global Player“ und zwingt uns, unser Handeln und Denken zu re-evaluieren.

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