Neandertaler waren die ersten Künstler der Menschheit

Neandertaler waren die ersten Künstler der Menschheit
Dorota Wojtczak bei Grabungsarbeiten in La Roche-Cotard. (Bild: zvg)

Basel – Strichartige Zeichnungen in einer seit Jahrtausenden verschlossenen Höhle im französischen La Roche-Cotard stammen vom Neandertaler. Das zeigen jüngste Forschungsarbeiten der Basler Archäologin Dorota Wojtczak zusammen mit einem Forschungsteam aus Frankreich und Dänemark. Der Neandertaler war demnach der erste Mensch mit einem Verständnis für Kunst.

Als der französische Archäologe Jean-Claude Marquet 1974 die Höhle La Roche-Cotard im Loire-Tal zum ersten Mal betrat, stieg eine Vermutung in ihm auf: Die feinen strichartigen Spuren an der Wand könnten menschlichen Ursprungs sein. Ebenfalls von ihm gefundene Schaber, Spitzen und gezähnte Stücke – alles so genannte Steinartefakte des Moustériens – deuteten auf die Neandertaler als Benutzer der Höhle hin. Waren die Wandspuren Beweise für frühe künstlerische Aktivitäten der Neandertaler?

Es wäre ein Bruch mit der damaligen Lehrmeinung gewesen, die dem Homo neanderthalensis höhere kognitive Fähigkeiten weitgehend absprach. Aus Furcht, seine Vermutung nicht genügend wissenschaftlich untermauern zu können, liess Marquet die Höhle fast 40 Jahre ruhen.

Spuren an der Wand durch menschliche Finger
Zusammen mit einem internationalen Team wagte er 2016 einen erneuten Versuch. Mit dabei war Dr. Dorota Wojtczak von der Integrativen Prähistorischen und Naturwissenschaftlichen Archäologie (IPNA) am Departement Umweltwissenschaften der Universität Basel, eine Spezialistin für archäologische Gebrauchsspuren. «Unsere Aufgabe war es, mit modernen Methoden den menschlichen Ursprung dieser Wandgravuren zu beweisen», erzählt Wojtczak in ihrem Büro an der IPNA. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden kürzlich im Fachmagazin PLOS One.

Zuerst mit Fotos und Zeichnungen, später mit einem 3D-Scanner wurden die Wandspuren im Tuffstein der Höhlenwand akribisch erfasst. Diese Aufzeichnungen aus der Höhle verglich Wojtczak in ihrem Labor in Basel mit Tuffstein, den sie experimentell mit Werkzeugen aus Holz, Knochen, Stein oder mit den Händen bearbeitet hatte. «Diese Untersuchungen zeigten eindeutig, dass die Höhlenspuren nicht mit Werkzeugen, sondern durch Kratzen mit menschlichen Fingern entstanden sein müssen», sagt Wojtczak.

Höhle über 50’000 Jahre verschlossen
Gleichzeitig zeigten Untersuchungen der Höhlensedimente von Forscherinnen aus Dänemark, dass die Höhle bis zu ihrer Wiederentdeckung über 50’000 Jahre lang durch Schlammrückstände der Loire und Bodensedimente verschlossen gewesen sein muss. Das macht das Höhlensystem von La Roche-Cotard zu einem ganz besonderen Ort, einer Art Zeitkapsel. «Zu dieser Zeit vor 50’000 Jahren gab es in Europa noch keine modernen Menschen, sondern nur die Neandertaler», sagt Wojtczak. Die Wandspuren und Artefakte können daher nur von diesen Frühmenschen stammen.

Die klaren geometrischen Formen von parallelen Linien und Dreieckslinien deuten auf Zeichnungen hin, die nicht zufällig in die Wand gekritzelt wurden. Was sie darstellen, weiss die Spurenforscherin zwar nicht. «Es kann aber nur von einem Menschen angefertigt worden sein, der mit Planung und Verstand operiert hat», sagt sie. Ob es tatsächlich Kunst oder eine Form der Informationsaufzeichnung gewesen ist, sei eine Frage der Interpretation.

La Roche-Cotard verspricht weitere Erkenntnisse
Die Höhle birgt viele weitere archäologische Geheimnisse. Jean-Claude Marquet hat bereits 1976 ein Objekt gefunden, das aussieht wie das Gesicht eines Menschen oder eines Tiers. Die Untersuchungen der Gebrauchspuren von Wojtczak deuten auch hier auf ein von Menschenhand geformtes Objekt hin. Ein weiteres Objekt aus der Höhle erinnert an eine kleine Öllampe. «Spezialisten untersuchen derzeit, ob Pigmente oder Russstoffe daran zu finden sind, um vielleicht den damaligen Brennstoff bestimmen zu können», erklärt Wojtczak.

Der bisher erforschte Teil von La Roche-Cotard gehört zu einem ganzen Höhlensystem. Insbesondere von Höhle vier, die noch weitgehend von Sedimenten verschlossen ist, erhofft sich die Forscherin weitere Erkenntnisse zum Wirken der Neandertaler. Jede Untersuchung, so ist Wojtczak überzeugt, werde die althergebrachte Lehrmeinung vom Neandertaler als geistig minderbemitteltem Menschen revidieren. Der Neandertaler sei eher so etwas wie der Cousin des modernen Menschen gewesen. «Er konnte sprechen und wahrscheinlich hat er sogar gesungen», meint sie schmunzelnd.

Dorota Wojtczak wird an den Fragen rund um die Lebensweise der Neandertaler in La Roche-Cotard zusammen mit ihren Studierenden des Studiengangs Prähistorische und Naturwissenschaftliche Archäologie weiter forschen. (Universität Basel/mc/ps)

Originalpublikation
Jean-Claude Marquet et al.
The earliest unambigous Neanderthal engravings on cave walls: La Roche-Cotard, Loire Valley, France
PLOS One (2023), doi: 10.1371/journal.pone.0286568
Film auf ARTE über La Roche-Cotard
Arbeitsgruppe Urgeschichte am IPNA
Universität Basel

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