Bern – Fallen Menschen mit Diabetes während der Autofahrt in eine Unterzuckerung, kann dies gefährlich werden. Denn zu niedrige Blutzuckerwerte beeinträchtigen die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit, was das Unfallrisiko erhöht. Eine aktuelle Studie unter der Leitung des Inselspitals, Universitätsspital Bern, und der Universität Bern zeigt nun, dass eine neue, auf maschinellem Lernen basierende Software vor Unterzuckerung am Steuer warnen kann. Die Software benutzt ausschliesslich Daten von Sensoren, die in einem modernen Auto bereits vorhanden sind.
Trotz bedeutender Fortschritte in der Medizin bleibt die Unterzuckerung (Hypoglykämie) eine grosse Herausforderung für Menschen mit Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus). Ist der Blutzuckerspiegel zu tief, verlangsamt sich die Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit. Auch Schwindel, Sehstörungen und Ohnmacht können dazu kommen. Dies ist besonders kritisch im Strassenverkehr, wo schnelle und komplexe Entscheidungen erforderlich sind. Da Autofahrerinnen und –fahrer stark auf den Verkehr konzentriert sind, ist die Gefahr gross, dass sie Anzeichen einer Unterzuckerung übersehen.
Menschen mit Diabetes wird zwar geraten, vor jeder Autofahrt ihren Blutzucker zu überprüfen. Jedoch reicht diese einzelne Messung nicht aus, um vorherzusagen, ob während des Autofahrens plötzliche Unterzuckerungen auftreten. In dieser Hinsicht sind kontinuierliche Glukosemesssysteme, kurz CGM-Systeme, effektiver. Diese messen den Glukosegehalt im Unterhautfettgewebe etwa alle fünf Minuten. Allerdings hinken die im Unterhautfettgewebe gemessenen Werte den aktuellen Blutzuckerwerten bis zu zwanzig Minuten hinten nach. Das führt dazu, dass CGM-Systeme bei schnell abfallendem Blutzucker die Glukosewerte erheblich überschätzen können. Diese Fehleinschätzung kann beim Autofahren potentiell zu Unfällen beitragen.
Unterzuckerung erkennen ohne Stich
Aus diesem Grund haben Forschende des Inselspitals, der ETH Zürich und der Universität St. Gallen eine neue Software entwickelt, die Unterzuckerungen anhand von während einer Autofahrt automatisch erfassten Fahr- und Blickdaten, diagnostizieren kann. Die Forschenden nutzen hierfür ausschliesslich Daten von bereits im Auto vorhandenen Sensoren und Kameras, wie zum Beispiel Lenkbewegungen, Bremsverhalten oder Kopfhaltung. Im Gegensatz zu den üblichen Blutzuckermesssystemen ist diese Methode nicht invasiv, das heisst, sie kommt ganz ohne Stechen aus.
In einer kürzlich durchgeführten Pilotstudie mit einem Fahrsimulator konnte das Forscherteam den Nachweis liefern, dass ihre Methode funktioniert. Allerdings ist die Übertragbarkeit der anhand von Simulatoren gewonnenen Erkenntnisse auf die Realität begrenzt, wie Dr. med. Dr. sc. nat. Vera Lehmann, Studienärztin an der Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus (UDEM) des Inselspitals erklärt: «Simulatoren können die von einer Person beim Autofahren wahrgenommene Umgebung und mögliche Gefahren nicht vollständig nachbilden. Auch das Wetter oder die Strassenqualität, die einen erheblichen Einfluss auf das Fahrverhalten haben, lassen sich im Simulator nur schlecht reproduzieren».
Härtetest unter realen Bedingungen
In einer soeben in der Fachzeitschrift «New England Journal of Medicine AI» veröffentlichten Studie gingen die Forschenden darum einen Schritt weiter: Sie testeten ihre Software unter realen Bedingungen. An der Studie nahmen 30 erwachsene Personen mit Typ-1-Diabetes mellitus teil, die mehrmals eine festgelegte und abgesperrte Teststrecke befuhren. Über einen Venenkatheter im Unterarm erhielten sie Insulin, um während des Fahrens entweder in eine leichte Unterzuckerung (3.0–3.5mmol/L) oder in eine starke Unterzuckerung (2.0–2.5mmol/L) versetzt zu werden. Aus Sicherheitsgründen wurden sie von einem Fahrlehrer begleitet, der bei Gefahr jederzeit eingreifen konnte.
Die Studienteilnehmenden waren mit CGM-Systemen ausgestattet, die ihre Blutzuckerwerte kontinuierlich aufzeichneten. Darüber hinaus wurden diese auch regelmässig intravenös gemessen. Fahr- und Blickdaten werden durch einen Computer im Kofferraum aufgezeichnet. Insgesamt wurden rund 48’000 Messpunkte gesammelt. Die Teilnehmenden waren sich bewusst, dass Unterzuckerungen ausgelöst wurden, kannten jedoch während der ganzen Fahrt ihren tatsächlichen Blutzuckerwert nicht.
Fahr- und Blickdaten geben Unterzuckerung preis
Mit den gesammelten Daten trainierten die Forschenden ihre Software darauf, Veränderungen im Fahr- und Blickverhalten der Studienteilnehmenden zu erkennen, die auf eine Unterzuckerung hinweisen könnten. Das Ergebnis war für das Team mehr als zufriedenstellend: Wurden sowohl die Fahr- wie auch die Blickdaten in die Software eingespiesen, konnte diese eine Unterzuckerung mit einer 80-prozentiger Sicherheit erkennen. Bei ausschliesslicher Verwendung von entweder Fahr- oder Blickdaten, lag die Wahrscheinlichkeit bei rund 70 Prozent.
Damit bietet die Software ein einfaches, effizientes und nicht-invasives Warnsystem, das bedeutend zur Verkehrssicherheit beitragen kann, indem sie Autofahrende bei Unterzuckerung durch eine Sprachnachricht oder ein akustisches Signal warnt.
Gefahr wird unterschätzt
Dass es ein solches Warnsystem braucht, wurde in der Studie ebenfalls deutlich. Der Studienleiter Prof. Dr. med. Christoph Stettler, Chefarzt an der Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus des Inselspitals erklärt: «Wie bereits in anderen Untersuchungen gezeigt wurde, unterschätzten die Studienteilnehmenden das Ausmass ihrer Unterzuckerung erheblich. Rund 40 Prozent davon wären trotz Unterzuckerung ohne etwas dagegen zu unternehmen weitergefahren.»
Laut Stettler könnte die Software auch dazu dienen, andere gesundheitliche Einschränkungen, die das Fahrverhalten beeinflussen, zu erkennen, beispielsweise Alkoholkonsum. Dafür wären aber noch zusätzliche Untersuchungen nötig. (Deutsches Gesundheits-Portal/Inselspital/mc/hfu)