Zwangspause für britisches Parlament ist rechtswidrig
London / Brüssel – In einem historischen Urteil hat das oberste britische Gericht die von Premierminister Boris Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des Parlaments für rechtswidrig erklärt. Der Supreme Court in London hob die Suspendierung des Unterhauses am Dienstag mit sofortiger Wirkung auf. Die Abgeordneten werden bereits an diesem Mittwoch um 12.30 Uhr (MESZ) wieder zusammentreten, wie der Präsident des Unterhauses, John Bercow, kurz nach dem Urteil mitteilte.
Für Johnson, exakt seit zwei Monaten Regierungschef, ist das die bislang schlimmste Niederlage. Er wolle das Urteil respektieren, halte es aber für falsch, sagte Johnson am Rande der UN-Vollversammlung in New York. «Ich widerspreche dieser Entscheidung des Supreme Courts nachhaltig.» Er habe den «grössten Respekt für unsere Gerichtsbarkeit». Es gebe eine Menge Leute, die den Austritt aus der Europäischen Union verhindern wollten. Der Premierminister sprach sich wieder für eine Neuwahl aus, um eine Mehrheit im Parlament für seinen Brexit-Kurs zu gewinnen.
Oppositionschef Jeremy Corbyn und andere Politiker forderten Johnson hingegen zum Rücktritt auf. Die Nachrichtenagentur PA zitierte eine nicht näher genannte Quelle in der Downing Street, nach der Johnson aber sein Amt nicht aufgeben wolle. Corbyns Abschlussrede beim Labour-Parteitag im südenglischen Brighton wurde auf Dienstagnachmittag vorgezogen. Ursprünglich wollten die britischen Sozialdemokraten noch am Mittwoch tagen.
Der Supreme Court entschied, dass die Zwangspause die Abgeordneten in «extremer» Weise an der Ausübung ihres verfassungsmässigen Auftrags hindere, wie die Vorsitzende Richterin Lady Brenda Hale bei der Urteilsverkündung ausführte. Das Parlament habe aber ein Recht darauf, in der Zeit vor einem wichtigen Ereignis wie dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober eine Stimme zu haben.
Hale (74) ist die erste Frau, die dem Supreme Court vorsteht und geniesst in Grossbritannien grossen Respekt. An Kragen und Schulter trug sie während der Urteilsverkündung eine grosse, auffällige Spinnenbrosche, die vor allem in sozialen Medien schnell für Gesprächsstoff sorgte.
Richterin: «Das Parlament ist nicht suspendiert»
Die von Johnson bei Königin Elizabeth II. erwirkte Anordnung zur Parlamentsschliessung gleiche einem «weissen Blatt Papier», so Hale. «Das Parlament ist nicht suspendiert. Das ist das einstimmige Urteil aller elf Richter.» Es handelt sich laut Hale um einen einmaligen Fall, den es unter diesen Umständen noch nie gegeben habe und «den es wahrscheinlich auch nie wieder geben wird».
Ex-Generalstaatsanwalt Dominic Grieve zufolge stiess das Gericht in ein Vakuum vor, «das der Premierminister geschaffen hat, indem er sich entschlossen hat, die ungeschriebenen Regeln unserer Verfassung zu missachten», sagte der von Johnson geschasste ehemalige Tory-Abgeordnete dem Sender Sky News. «Bei der britischen Verfassung beruht vieles auf Konventionen, das bedeutet auf dem Vertrauen, dass sich die Leute in einer bestimmten Weise verhalten.» Johnson habe aber gezeigt, dass er sich nicht an diese ungeschriebenen Regeln halten wolle. Eine dieser Regeln laute, dass das Parlament nicht suspendiert werden darf, um politische Ziele zu erreichen.
Grossbritannien hat – anders als Deutschland – keine in einem einzelnen Dokument niedergelegte Verfassung. Sie besteht stattdessen aus einer Reihe von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Konventionen. Die Verfassung entwickelt sich durch Gesetzgebung oder neue Interpretationen bestehender Regeln ständig weiter. Manchmal ist daher auch von einer politischen Verfassung die Rede. Trotzdem widersprachen die Richter der Auffassung der Regierung, die Justiz sei im vorliegenden Fall nicht zuständig.
Kein offizieller Kommentar aus Brüssel
Die EU-Kommission wollte das Urteil des Supreme Court nicht kommentieren. Es handele sich um interne verfassungsrechtliche Fragen eines Mitgliedstaats, zu denen man keine Stellung nehme, sagte eine Sprecherin. Führende EU-Abgeordnete begrüssten die Entscheidung des Gerichts. Zugleich verlangten sie Klarheit bei dem zu Halloween geplanten EU-Austritt.
«Der Rechtsstaat in Grossbritannien ist quicklebendig», twitterte der Brexit-Beauftragte im EU-Parlament, Guy Verhofstadt. Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, sprach von einem guten Tag für die parlamentarische Demokratie. Der CDU-Aussenpolitiker David McAllister äusserte sich ähnlich, warnte aber, dass die Entscheidung nicht die ursprüngliche politische Blockade löse. «Es muss gelingen, einen ungeordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU abzuwenden.»
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner reagierte mit Genugtuung auf das Urteil. Das Entscheidung zeige, dass Grossbritannien ein intaktes rechtsstaatliches System habe, sagte Lindner in Berlin.
Begonnen hatte die Zwangspause in der Nacht zum 10. September. Bei der Abschlusszeremonie kam es zu tumultartigen Szenen. Das Parlament sollte erst am 14. Oktober – etwa zwei Wochen vor dem geplanten Brexit – wieder zusammentreten.
Trotz Zwangspause konnte Johnson nicht verhindern, dass die Abgeordneten ein Gesetz verabschiedeten, das den Premierminister zum Beantragen einer weiteren Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet. Sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein, müsste Johnson einen entsprechenden Antrag nach Brüssel schicken.
Was macht Johnson?
Der Regierungschef will sich dem jedoch nicht beugen. Wie das gehen soll, ohne das Gesetz zu brechen, erklärte Johnson bisher nicht. Gut möglich, dass auch dieser Streit wieder vor Gericht landen wird. (awp/mc/ps)