„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ hatte Mark Twain einst gesagt. Seit über 40 Jahren haben Investoren keinen derart starken Angebotsschock mehr erlebt. Dieser Schock, der die Produktionskosten erhöht und damit die produzierten Güter und Dienstleistungen verteuert und verknappt, wurde massgeblich durch den Ukraine-Konflikt ausgelöst. Viele versuchen, die aktuellen Marktgeschehnisse mit den Ölkrisen der 70er Jahre zu vergleichen und entsprechende Schlussfolgerungen für ihre Anlagestrategie zu ziehen. Doch wie vergleichbar sind beide Angebotsschocks wirklich, und welche Schlussfolgerungen lassen sich für Investoren ziehen, um im aktuell unruhigen Marktumfeld sicher zu navigieren?
von Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer von ODDO BHF AG
Damals und heute war ein regionaler Konflikt Auslöser für Sanktionen und entwickelte sich zu einem globalen Wirtschaftskrieg. Dies führte zu einer drastischen Verknappung des Energieangebots, begleitet von einem starken Anstieg der Energiepreise. Die gestiegenen Energiepreise befeuerten die Inflation und zwangen die Zentralbanken zu erheblichen Zinserhöhungen.
Zwei Situationen, die sich in vielerlei Hinsicht ähneln
Hohe Inflation ohne Wachstum. Während der ersten Ölkrise stand die Inflationsrate bei durchschnittlich 9,2%, während des Ukraine-Konflikts bisher bei 8,4%. Das BIP-Wachstum sank von 5,7% im Jahr 1973 auf – 0,5% 1974. Für 2022 wird ein Rückgang von 6,0% im Vorjahr auf 1,5% im laufenden Jahr geschätzt. Auf eine solche Gemengelage reagierten die Aktienkurse schon in den 70ern sehr „allergisch“. Der amerikanische S&P 500 (Total Return) kehrte erst nach etwa 3 Jahren wieder auf sein Vorkrisenniveau zurück. Der maximale Verlust betrug damals fast 50%. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fiel der S&P 500 bisher um fast ein Viertel.
Der Anstieg der Ölpreise während des ersten Preisschocks und seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind in ihrer Dimension sehr ähnlich. Der jüngste Anstieg der Energiepreise erfolgt in dieser Krise aber in einem deutlich längeren Zeitraum als während der ersten Ölkrise. Er begann bereits zur Covid-Hochphase im April 2020. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass die Energieintensität der Produktion damals wesentlich höher war als heute: Im Vergleich zu den 70er Jahren ist heute nur noch halb so viel Öl nötig, um die gleiche Wirtschaftsleistung zu produzieren. Hinzu kommt, dass die USA sich vom Nettoimporteur in den 70er Jahren zum Nettoexporteur von Energie gewandelt haben.
Die Suche nach dem richtigen Zeitpunkt für eine Neupositionierung in Aktien beginnt
Während einer Stagflation geraten Unternehmensgewinne von mehreren Seiten unter Druck. Hohe Energierechnungen und Lohnforderungen erhöhen die Kosten, während ein negatives Konsum- und Investitionsklima die Umsätze von der Nachfrageseite bedroht. In einer solchen Phase ist es umso wichtiger, Unternehmen zu selektieren, die gestiegene Kosten an ihre Kunden weitergeben können und ein robustes Umsatzwachstum verzeichnen. Die Konzentration auf „krisensichere“ Geschäftsmodelle mit Preissetzungsmacht ist somit derzeit entscheidend für den Anlageerfolg.
Man sollte sich deshalb auf Qualitätsunternehmen mit einer hohen Kapitaleffizienz, klaren Wettbewerbsvorteilen und einer hohen Preissetzungsmacht konzentrieren. Die Krise hat bereits deutliche Spuren hinterlassen: Gemessen an Indikatoren wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis, dem Kurs-Buchwert-Verhältnis oder der Cash Flow-Rendite sind Aktien zumindest in Europa und in den Schwellenländern nicht mehr teuer bewertet.
Ein langfristiger Investor muss sich die Frage stellen, wann er die Aktienquoten wieder erhöhen soll. In sieben von acht Rezessionen in den USA seit 1965 war es richtig, die Aktienquoten erst kurz vor dem Ende der Rezession wieder zu erhöhen. Dort sind wir derzeit noch nicht.
Die 1970er Jahren haben gezeigt, dass Angebotsschocks länger dauern können, da der Staat – anders als bei einem Nachfrageschock – den Wirtschaftsabschwung nicht durch eine expansive Fiskalpolitik oder Zinssenkungen stimulieren kann. Würde er es tun, dann würde die Inflation noch stärker steigen. Die hohe Inflation in den 1970er Jahren endete in den USA erst nach der zweiten Ölkrise, als die Federal Reserve die Leitzinsen Anfang der 1980er Jahre auf über 20% anhob und die Wirtschaft in eine Rezession stürzte.
Derart hohe Zinssteigerungen sind heute undenkbar, da die Staaten deutlich höher verschuldet sind als Anfang der 1970er Jahre. Würde die EZB die Zinsen zu stark erhöhen, dann würde eine zweite Eurokrise drohen. Angesichts des begrenzten Spielraums der Notenbanken insbesondere in Europa könnte die Phase der hohen Inflation länger dauern als es der Markt derzeit erwartet. (ODDO BHF/mc)
Prof. Dr. Jan Viebig ist Chief Investment Officer (CIO) von ODDO BHF AG. Vor seinem Wechsel zu ODDO BHF leitete er das Asset Management bei Hauck & Aufhäuser Privatbankiers. Dem voraus gingen führende Positionen als CEO bei Harcourt, als Head Alternatives bei Vontobel und Head of Emerging Markets Equities bei Credit Suisse in Zürich, Schweiz. Zuvor war er von 1999 bis 2009 bei DWS (Deutsche Bank Gruppe) in Frankfurt tätig. Dort war er zunächst als Senior-Portfoliomanager für internationale und Schwellenmärkte verantwortlich. Anschliessend wurde er zum Managing Director ernannt und verwaltete als Hedgefondsmanager diverse Long/Short-Aktien-, Absolute-Return- und Long-only-Fonds.