Basel – Wer kennt sie nicht, die Petite Camargue Alsacienne vor den Toren Basels? Von der französischen Regierung 1982 zum Naturschutzgebiet erklärt, zieht die Auenlandschaft am alten Flusslauf des Rheins an schönen Wochenenden regelmässig Tausende von Besucherinnen und Besuchern an. Hier läuft seit ein paar Jahren ein ebenso ambitionierter wie wissenschaftlich hochinteressanter Versuch: eines der grössten Renaturierungsprojekte Mitteleuropas. Mit der etappenweisen Ansiedlung von Grosstieren, die noch in diesem Jahr beginnen soll, tritt dieser Versuch jetzt in eine neue, faszinierende Phase.
Geht es nach den Vorstellungen des Biologen Valentin Amrhein, Professor für Zoologie an der Universität Basel und Leiter der 1989 gegründeten Forschungsstation in der Petite Camargue, werden auf der langgestreckten Rheininsel noch dieses Jahr schottische Hochlandrinder und aus Polen stammende, urtümlich anmutende Konik-Pferde grasen. «Wir wollen versuchen, mit der Ansiedlung grosser Pflanzenfresser die Vegetation auf der Insel einigermassen unter Kontrolle zu halten. In einer ersten Phase setzen wir dafür domestizierte, für eine naturnahe Haltung geeignete Rinder- und Pferderassen ein», erklärt Amrhein.
Wie auf dem Mond
Dem Stromkonzern Electricité de France (EDF), welchem die Rheininsel gehört, wurden anlässlich der Rekonzessionierung des Kembser Wasserkraftwerks umfangreiche Auflagen gemacht. Nach eigenen Angaben hat EDF in den letzten Jahren rund 20 Millionen Euro aufgewendet, um den südlichsten Teil der rund 70 Kilometer langen Insel zwischen Altrhein und dem für die Schiffahrt offenen Rheinkanal zu renaturieren. Dafür wurde ein Maisfeld von etwa einem Quadratkilometer komplett umgepflügt. 300’000 Tonnen mit Pflanzenschutzmitteln belastete Erde und Geröll mussten bewegt werden, sodass das Projektgelände vorübergehend aus einer riesigen Kiesfläche bestand: «Es sah aus wie auf dem Mond», erinnert sich Amrhein. «Wohl so ähnlich wie in früheren Zeiten, nachdem der Rhein jeweils über seine Ufer getreten war.»
Als nächstes wurde die Rinne für einen neuen Flussarm ausgebaggert und nach einem ausgetüftelten Plan Trockenrasen mit Pflanzen aus der Umgebung angesät. Seither erobert sich die Natur dieses Gelände Schritt für Schritt zurück. Und verschafft Botanikern und Zoologen die einmalige Gelegenheit, die Abfolge der Pflanzen- und Tiergesellschaften vom blanken Kies bis hin zum strukturreichen Auwald im Verlauf von ein paar Jahrzehnten eins zu eins verfolgen zu können.
«Wir mussten uns überlegen, was zu tun ist, um das Gelände zumindest teilweise offen zu halten.»
Valentin Amrhein
«Die Entwicklung hin zu Buschland und Wald geht rasend schnell», sagt Amrhein. «Deshalb mussten wir uns überlegen, was zu tun ist, um das Gelände zumindest teilweise offen zu halten. Jetzt bauen die französischen Betreuer des Naturschutzgebietes einen grossen Zaun und beginnen mit einer Herde schottischer Hochlandrinder und Konik-Pferden, das heisst mit bereits erprobten, genügend robusten Rassen, wie sie auch in anderen europäischen Naturschutzgebieten zunehmend eingesetzt werden.»
Vision Wisente
Dabei verhehlt der Forschungsleiter nicht, dass er sich durchaus vorstellen kann, hier im Herzen Mitteleuropas langfristig auch Wisente und andere vom Aussterben bedrohte Wildtierarten anzusiedeln. Der Wisent ist einer der letzten ursprünglichen Megaherbivoren, die es in Europa noch gibt. In den 1920er-Jahren waren gerade einmal noch zwölf Exemplare dieser europäischen Bison-Variante übrig. Durch Rückzüchtung ist der Bestand – hauptsächlich in Zoos und überwachten Tiergehegen – inzwischen wieder auf rund 4000 Tiere angewachsen. «Wir träumen davon, dass diese alten Tiere irgendwann wieder in unseren Wäldern leben können, so ähnlich wie Hirsche», sagt Amrhein.
Und die Doktorandin Lilla Lovász pflichtet bei: «Unverfälschte Natur ist dreckig und schlammig – und ja, sie sollte manchmal auch ein bisschen gefährlich sein. Es sollte nicht nur ein Ort sein, wo wir joggen oder mit unserem Hund spazieren gehen, um unseren Arbeitsstress abzubauen.» Die aus Ungarn stammende Biologin hat wichtige Grundlagen für die Umsetzung des Beweidungs-Projekts erarbeitet. Eine echte Innovation sei die geplante Ko-Existenz von zwei grossen Weidetierarten auf ein und demselben Naturschutzgelände, betont sie. Gemäss ihren Berechnungen sollen auf einer umzäunten Fläche von anfänglich 30 Hektaren zunächst fünf schottische Hochlandrinder und fünf Konik-Pferde zusammenleben können. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit wird Lovász jedes dieser zehn Tiere mit einem GPS-Gerät versehen, um herauszufinden, ob die Anwesenheit der jeweils anderen Art das Verhalten der Rinder und Pferde beeinflusst: «Wir wollen untersuchen, ob das Areal tatsächlich geeignet ist, eine gemischte Herde von dieser Grösse das ganze Jahr über zu tragen, und wie viele Tiere benötigt werden, wenn die Weide auf die ganze Fläche von etwa 90 Hektaren ausgeweitet wird.»
Auch Lilla Lovász würde gerne noch einen Schritt weiter gehen und dereinst echte Wildtiere ansiedeln. Doch von dieser Zukunftsvision sind Professor Amrhein und sein Team im Moment noch weit entfernt. In einem Naturschutzgebiet kann man nicht ohne Bewilligung neue Arten ansiedeln. Beim Wisent handelt es sich zudem um eine geschützte Spezies, die in Frankreich nicht in freier Wildbahn vorkommt. Ergo kann man den europäischen Bison laut Gesetz auch nicht einfach aussetzen. Es wird einige Jahre dauern, bis die nötigen Bewilligungen vorliegen und allfällige Befürchtungen in der Bevölkerung beschwichtigt sind. Bis sich Amrheins Vision erfüllt und in der Petite Camargue ungezähmte Wildtiere grasen, wird man sich also noch eine Weile gedulden müssen. (Universität Basel/mc/ps)
Petite Camargue Alsacienne
1982 gegründet, ist die Petite Camargue Alsacienne das älteste Naturschutzgebiet im Elsass. Es umfasst nach einer Erweiterung im Jahr 2006 eine Fläche von über 9 Quadratkilometern. Die in den alten Fischzucht-Gebäuden untergebrachte und an die Universität Basel angegliederte Forschungsstation wird von einem privaten Basler Verein getragen, der Association Suisse Pro Petite Camargue Alsacienne. Zu den Geldgebern der Forschungsstation gehört auch die MAVA-Stiftung des 2016 verstorbenen Luc Hoffmann, Enkel des Gründers von Hoffmann-La Roche und weltweit bekannter Naturforscher und Umweltschützer.