Von Jan-Hendrik Sohn
Neben der noch immer virulenten Coronapandemie gehört das Thema Nachhaltigkeit derzeit zu den Top-Prioritäten für verantwortungsbewusste Unternehmen – auch wenn die Konzernverantwortungsinitiative knapp gescheitert ist. Ganz gleich, ob Selbstverpflichtung, veränderte Kundenwünsche oder erhöhter Konkurrenzdruck: Um das Thema Nachhaltigkeit voranzubringen, müssen Einkäufer dafür sorgen, dass möglichst alle Lieferanten grundlegende Menschenrechts- und Umweltstandards einhalten – und gleichzeitig flexibel bleiben.
Zur Bewertung von CSR- und Umweltrisiken ist eine Vielzahl unterschiedlicher Informationen nötig, die sich jedoch nicht allein aus unternehmenseigenen ERP-Systemen gewinnen lässt.
Von Lieferanten bereitgestellte Daten sind allenfalls eine Ergänzung, denn die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass Lieferanten Verstösse spät oder gar nicht melden, da sie keinerlei Interesse an der womöglich drohenden Einstellung einer Geschäftsbeziehung haben. Deshalb sind Einkäufer zur Risikobewertung auf geprüfte Daten Dritter angewiesen. Sie müssen in der Lage sein, diese in die eigenen Systeme zu integrieren, einfach auszuwerten – und bei Verstössen schnell zu handeln. Die meisten Einkäufer informieren sich routinemässig bei Rating-Anbietern wie Creditreform oder Dun & Bradstreet über die Bonität ihrer Partner und verwenden externe Wetter- und Klimadaten.
Die Einbeziehung von CSR- und Umweltrisiken ist relativ neu. Hier sind es Anbieter wie EcoVadis, die Unternehmen mit eigenen Experten analysieren und bewerten oder wie Tealbook Informationen aus verschiedenen Onlinequellen aggregieren. Riskmethods bietet sogar zusätzlich eine Vielzahl unterschiedlicher Risikoparameter aus anderen Bereichen an. Eines haben alle gemeinsam: Einkäufer können anhand der Informationen prüfen, ob ihre Lieferanten internationale Standards einhalten. Das klingt simpel, doch wie so oft steckt die Tücke im Detail – und zwar in der technisch-organisatorischen Umsetzung.
Immer komplexere Risikobewertung
Für Organisationen mit internationalen Lieferketten ist die Anzahl der Risiko-Parameter inzwischen so hoch, dass eine Auswertung ohne technische Unterstützung nicht mehr möglich ist.
Die meisten Datenanbieter verfügen über eine eigene Software, sodass eine umfassende Risikobewertung fast immer zusätzliche manuelle Schritte erfordert. Dies gilt auch für automatisierte Regeln und Prozesse innerhalb bestehender ERP-Software: Aufgrund der mangelnden Integrationsmöglichkeiten für externe Risikoinformationen lassen sich Freigaben, Sperrungen oder Warnmeldungen nur zeitversetzt aktivieren und müssen regelmässig manuell nachjustiert werden. Dies kostet wertvolle Zeit und verlangsamt sowohl den Sourcing-Prozess als auch die Lieferantenauswahl. Zudem senkt es die dringend benötigte Flexibilität, denn Einkäufer können auf bekannt gewordene Menschenrechtsverletzungen oder Krisenereignisse wie Covid-19 nur stark verzögert reagieren.
Eine Digitalisierung des Source-to-Pay-Prozesses hilft, diese Herausforderungen zu meistern.
Digitales Risikomanagement dringend
Die Vorteile eines digitalen Beschaffungsprozesses liegen auf der Hand: höhere Effi zienz, geringere Durchlaufzeiten für Rechnungen, mehr Transparenz und Flexibilität sowie Unterstützung beim Treff en fundierter Beschaffungsentscheidungen. Dennoch wurden viele Digitalisierungsprojekte aufgrund ihrer angenommenen Komplexität und eines schwer prognostizierbaren Return on Invest (ROI) nur halbherzig vorangetrieben.
Selbst internationale Konzerne mit zahlreichen Tochterunternehmen, Niederlassungen und Produktionsstätten haben Mühe, die hochkomplexen IT-Projekte zum Erfolg zu führen. Datensilos, ineffi ziente und teilweise immer noch papiergebundene Prozesse sowie mangelnde Transparenz und Flexibilität sind deshalb nach wie vor an der Tagesordnung. Hier herrscht dringender Handlungsbedarf.
Faktoren für die Lösungsauswahl
Bei der Evaluierung neuer Einkaufssoftware sollten Entscheider umfassend prüfen, ob der Anbieter ihrer Wahl den eigenen Source-to-Pay-Prozess vollständig digital abbilden und eine frühzeitige Erkennung von CSR- und Umweltrisiken mithilfe von Drittanbieterdaten gewährleisten kann.
Ausserdem ist darauf zu achten, dass die neue Lösung sich in bestehende Systeme integrieren lässt, eine einheitliche Datenbasis (Single Point of Truth) schaff t und einen Rundumblick auf alle Lieferanten ermöglicht. Jede Neuanschaff ung sollte zudem die Reaktionsfähigkeit verbessern und zur Konsolidierung der eigenen IT-Infrastruktur beitragen. Zudem sollte sie eine effi zientere und skalierbare Zusammenarbeit mit den Lieferanten ermöglichen, um kontinuierliche Verbesserungen im Einkauf zu erreichen. Viele in die Jahre gekommene ERP-Systeme lassen entsprechende Möglichkeiten noch vermissen und sind damit alles andere als zeitgemäss.
Fazit: digitalisieren und modernisieren
Zwar ist die Konzernverantwortungsinitiative hierzulande knapp gescheitert, doch der öff entliche und politische Druck hat keineswegs nachgelassen. Auch wenn sie bereits einen eigenen «Code of Conduct» haben, sollten Unternehmen damit rechnen, dass entsprechende Gesetzesinitiativen früher oder später noch umgesetzt werden – so wie das jüngst in Deutschland verabschiedete Lieferkettengesetz.
An einer Modernisierung bestehender Einkaufslösungen und -prozesse werden sie also über kurz oder lang nicht vorbeikommen. Digitalisierung, zuverlässige Daten und deren strukturierte Auswertung durch moderne IT werden dabei von erheblicher Bedeutung sein. Es reicht aber nicht, allein auf neue Technik zu setzen. Um Nachhaltigkeitsinitiativen zum Erfolg zu führen, müssen Organisationen mit ihren Partnern Konsens über veränderte Kundenanforderungen herstellen, die Notwendigkeit umfassenderer Transparenz kommunizieren und verbindlich miteinander vereinbaren.
Neben der Digitalisierung herrscht also auch beim Thema Lieferantenbeziehungen dringender Handlungsbedarf. Die dazu notwendigen Änderungen werden für alle Beteiligten ein grosses Stück Arbeit sein – vor allem, wenn sie mit internationalen Partnern zusammenarbeiten. Mit den passenden Lösungen im Zusammenspiel mit Veränderungsbereitschaft auf allen Seiten werden Auftraggeber und Lieferanten jedoch für die Zukunft zweifellos besser aufgestellt sein. (procure.ch/mc/ps)
Jan-Hendrik Sohn ist Regional Director DACH und CEE von Ivalua. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im E-Procurement-Business und ist Experte für die Einkaufsprozesse in Grossunternehmen.