Von Martin Gut
Praktisch alle Untersuchungshandschuhe stammen aus Malaysia und Thailand. OP-Kleidung stammt meist aus Marokko. China produziert über 90 Prozent der Schutzmasken. Verfügen die Regierungen dieser Länder einen Lockdown, bekommen wir das hierzulande spätestens nach fünf Wochen zu spüren. Im vergangenen März stieg die globale Nachfrage über Nacht um das 20-Fache. Die Supply Chain musste zwangsläufig kollabieren. Ein Erlebnisbericht aus dem Alltag eines Spitaleinkaufsprofis.
Spitäler sind verpflichtet, definierte Pandemiegüter in Mengen verfügbar zu haben, welche für eine prognostizierte Pandemiedauer ausreichen sollen. Zum Glück hatten wir bereits vor Jahren ein gut dimensioniertes Lager angelegt. Als wir die Ware jedoch abrufen wollten, war diese unauffindbar.
24 Stunden später wussten wir, dass die Ware nicht mehr physisch im Schweizer Distributionslager war, sondern bei Vorlieferanten und Produzenten, die teilweise in Deutschland und Frankreich ansässig sind. Unglücklicherweise hatten gerade diese Länder ein Exportverbot von Schutzmaterialien ausgesprochen.
Zum Glück konnten unsere Vertragspartner die nötigen Produkte und Mengen dann doch restlos anliefern, sodass unsere Lager wieder gut gefüllt waren.
Ein Königreich für sterile OP-Mäntel
Leider hielt dieser Zustand nicht allzu lange an, denn die Infektionen nahmen rasant zu und die Pandemielager genau so rasant ab. Man stelle sich vor – der Bedarf an gewissen Schutzmaterialien stieg innert Kürze kontinuierlich bis zum 30-Fachen des normalen Bedarfs an. Angestammte Bezugsquellen versiegten reihum.
Die geforderten Bezugsmengen konnten wir so natürlich nicht mehr garantieren – und eine schnelle, praktikable Lösung war nicht in Sicht. Lieferrückstände wurden von den Anbietern einfach storniert und unsere Anrufe meist gar nicht mehr entgegengenommen. Die Kommunikation war nur noch per Chat möglich oder via E-Mail, wobei die Lieferanten durchaus ein bis zwei Tage Zeit benötigten für eine Antwort.
Egal ob wir mit Nischenplayern oder Konzernen in Kontakt waren, es war praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, Informationen über weiterhin lieferbare Produkte und Mengen oder alternative Produkte zu erhalten. Die gesamte Supply Chain glich in den ersten Tagen und Wochen einer einzigen hoffnungslosen Hektik.
Weshalb wichtige Ware so schnell knapp wurde, lässt sich gut am Beispiel Marokko illustrieren. Das nordafrikanische Königreich ist ein Schwergewicht in der Produktion von Schutzmänteln, Einwegbekleidung sowie Abdeckungen für Operationen. Genau diese Ware war längere Zeit mit einem königlichen Exportverbot belegt.
Diese Produkte werden aus demselben Rohstoff hergestellt wie die weltweit knappen Atemschutzmasken. Das bedeutete für uns, dass OP-Kleider und sterile Operationsmäntel zur Mangelware und praktisch nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen zu organisieren waren.
Hinz und Kunz als neue Anbieter
Andernorts schien die Beschaffung der dringend benötigten Ware jedoch kein Problem darzustellen. Über Nacht traten Hinz und Kunz in den inzwischen praktisch hundertprozentigen Anbietermarkt ein.
Büro- oder Geschenkartikelhändler und sonstige Anbieter nutzten die Gunst der Stunde und boten plötzlich angeblich qualitativ einwandfreies Schutzmaterial an. Leider hatten diese branchenfremden Händler keine grosse Ahnung von wichtigen Normen und Schutzklassen bei medizinischen Produkten – aber halt «gute» Kontakte nach China.
An Spitzentagen kontaktierten uns inzwischen fünfzig unterschiedliche Anbieter, die uns Schutzmasken und Schutzkleidung verkaufen wollten. Mittlerweile waren dadurch auch die Preise angestiegen – um bis zu 700 Prozent und Bezahlung per Vorkasse zur Selbstverständlichkeit geworden. Gerade in der Rushhour liefen die Geschäfte praktisch nur noch telefonisch ab. Keiner hatte mehr Zeit Emails zu schreiben, Artikel in Materialmanagementsystemen zu erfassen oder dergleichen. Wer von formellen, schriftlichen Angeboten, Staffel-Offerten, Lieferbestätigungen, Auftragserteilungen oder Auftragsbestätigungen redete, erntete inzwischen nur noch ein müdes Lächeln.
Fragten wir nach Zertifikaten oder CE-Konformitätserklärungen, hiess es lapidar: «Die kann ich Ihnen dann schon noch nachliefern, aber wollen Sie jetzt die Ware oder nicht?» Wenn Zertifikate dann unerwarteterweise doch noch geschickt wurden, waren sie oftmals laienhaft gefälscht. Ein Grund, weshalb führende Zertifizierungsstellen die Möglichkeit bieten, die Zertifikate online zu überprüfen.
Die Masslosigkeit des Wollens
Galt die Ware endlich als gesichert, stellte sich bereits das nächste Problem: Es gab keine Frachtkapazitäten mehr. Die Rede war von angeblich kilometerlangen LKW-Staus vor den Abfertigungshallen an den chinesischen Flughäfen. Auch von fehlendem Verpackungsmaterial aufgrund von Hamsterkäufen amerikanischer und australischer Unternehmen war zu hören. Morgens ausgestellte Frachtraten hatten bereits am Abend keine Gültigkeit mehr.
Effektive Transportkosten wurden erst zum Zeitpunkt der Verladung bekanntgegeben. War dies erfolgt, durfte man davon ausgehen, dass die Ware mit hoher Wahrscheinlichkeit endlich verladen wurde.
Mein Pendant im Kantonsspital Obwalden, Remo Ehrsam, ging freimütiger vor. Er kaufte gleich 85 Kubikmeter Frachtraum der Innenkabine eines Charterflugzeugs. Den mehrfach verdoppelten Luftfrachttarif musste er in dieser Situation wohl oder übel in Kauf nehmen.
Besonders herausfordernd war, dass trotz Krise niemand unter Krisenbedingungen leben und arbeiten wollte. Trotz radikal veränderten Bedingungen blieb die Erwartungshaltung, was Verfügbarkeiten und Qualität anbelangt, auf demselben Niveau.
Lernkurve immer wieder anpassen
Genanntes ist wohl einer der Hauptgründe für Schweizer Unternehmen, sich an die Maskenproduktion zu wagen. Nicht alles lief von Beginn weg wie geplant, deshalb wurden die chinesischen Produktionsanlagen inzwischen durch deutsche Maschinen ersetzt.
Auch wir halten seit Produktionsaufnahme einem hiesigen Hersteller die Treue. Pioniergeist, die erreichte tolle Qualität und die Liefersicherheit sind uns einen zwanzig Prozent höheren Preis im Vergleich zum Weltmarkt wert.
Die Rohstoff-, Produktions- und Lieferketten, die anfangs komplett zusammenbrachen, haben sich aktuell wieder etwas erholt und funktionieren wieder besser, wenn auch längst nicht perfekt. Doch noch sind nicht alle Versorgungsengpässe komplett entschärft. Rechtzeitig zum Jahreswechsel erhielten wir die Hiobsbotschaft, dass der Preis einer 100er-Box Untersuchungshandschuhe aus Nitril von rund vier auf 28 Schweizer Franken angestiegen ist. Auch hierfür gilt es eine akzeptable Lösung zu finden.
Ich staune, in welch kurzer Zeit es gelungen ist, die weltweite Nachfrage wieder zu decken.
Es ist aber wohl davon auszugehen, dass andere Nationen nicht mit der Kaufkraft der Europäer, Amerikaner oder Australier mithalten konnten und leer ausgegangen sind. (procure.ch/mc/ps)
Autor:
Martin Gut hat eidgenössischeDiplome als Spitalexperte und Logistikleiter sowie den Fachausweis als Einkaufsfachmann. Er leitet seit 13 Jahren die Beschaffung und die Logistik der Spital STS AG (Spitäler Thun und Zweisimmen) und ist Dozent an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin.