Reisende in die Vergangenheit Afrikas
Von Christoph Dieffenbacher, Universität Basel
Basel – Die Geschichtsschreibung Afrikas kennt zahlreiche Lücken. An der Universität Basel erforscht die Historikerin Julia Tischler, wie der Kontinent im 19. und 20. Jahrhundert kolonisiert und missioniert wurde.
Als der Kariba-Staudamm im südlichen Afrika Ende der 1950er-Jahre gebaut wurde, war er der grösste der Welt. Der hier erzeugte Strom sollte Nord- und Südrhodesien, dem heutigen Sambia und Simbabwe, zu Frieden und Wohlstand verhelfen. Doch für die Bevölkerung erwies sich der Bau als Alptraum: Für die riesige Talsperre, gefördert von der britischen Kolonialregierung und der Weltbank, mussten Zwangsarbeiter unter schlimmsten Bedingungen anpacken. Über hundert von ihnen kamen dabei ums Leben. Entlang des Sambesi-Flusses hatten die Behörden 57 000 Menschen umgesiedelt, bevor sie deren Dörfer und Felder mit den Wassermassen überfluteten.
Wasser in einer Karaffe hat Julia Tischler in ihrem Büro für den Besucher bereitgestellt. Offenes Gesicht, aufmerksamer Blick. Anschaulich erzählt sie von dem Staudammprojekt, das sie für ihre Dissertation erforscht hat. Dafür suchte sie vor Ort in Archiven nach Dokumenten, recherchierte bei der italienischen Baufirma und sprach mit beteiligten Arbeitern. «Das Projekt ist heute ein abschreckendes Beispiel für die negativen Folgen solcher Grossbauten», resümiert sie. Seit Jahren ist der Staudamm schwer sanierungsbedürftig. «Ich wollte mehr über das damalige Konzept von Entwicklung erfahren, aber auch über den lokalen Widerstand», sagt Tischler.
Ähnliche Fragen stellte sie sich später in ihrer Studie zu Südafrika, einem Land, in dem strikte Rassentrennung herrschte. Die Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung durfte nur in den sogenannten «Reserves» Land besitzen, die Anfang des 20. Jahrhunderts nur knapp acht Prozent der gesamten Landfläche ausmachten. Die jungen Männer migrierten Jahr für Jahr in die von Weissen betriebenen Minen und Farmen; die eigene Landwirtschaft litt unter den Folgen von Landknappheit und Arbeitskräftemangel. Da begannen Schwarze Bauern, neue landwirtschaftliche Erkenntnisse aus den USA zu verbreiten, boten der Bevölkerung Beratung und Ausbildungen an, hielten Vorträge über verbessertes Saatgut, Gemüseanbau und Geflügelzucht.
Zur Partnergemeinde nach Tansania
Tischler, mit zwei Brüdern im Rheinland aufgewachsen, war schon früh mit Afrika in Berührung gekommen: Bei einem Austausch der örtlichen Kirche mit einer Partnergemeinde in Tansania reiste sie erstmals als Jugendliche auf den Kontinent.
«Über diesen Erdteil gab es in meinem Umfeld die meisten Vorurteile und das wenigste gesicherte Wissen. Genau das interessierte mich.»
Julia Tischler
Später, während des Studiums, beschäftigte sie sich mit der Literatur Afrikas. Ihre Neugier nahm zu: «Über diesen Erdteil gab es in meinem Umfeld die meisten Vorurteile und das wenigste gesicherte Wissen. Genau das interessierte mich.»
Die Afrika-Professur in Basel, eine von wenigen im deutschsprachigen Raum, war ein Glücksfall. Hier schätzt es Tischler, von Fachleuten aus Disziplinen wie Anthropologie, Urban Studies, Soziologie und Public Health umgeben zu sein und einschlägige Sammlungen und Archive nutzen zu können. Um ihre Aufgaben als Professorin mit der Familienarbeit als Mutter von zwei kleinen Töchtern vereinbaren zu können, reduzierte sie ihre Stelle auf 80 Prozent. Eine solche Massnahme sei noch selten auf der Ebene Professur, sagt sie.
Wenn Tischler ihr Vorgehen als Historikerin beschreibt, erinnert das ein bisschen an jenes einer Ethnologin im Feld oder einer Journalistin beim Lokaltermin: Sie mag es, sagt sie, sich einem Ort in der Rolle einer teilnehmenden Beobachterin zu nähern, genau hinzuschauen, Eindrücke zu sammeln und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Danach beginnen für sie die vertiefte Recherche und die Analyse – mit dem Ziel, nachzuvollziehen, wie es zu einer bestimmten historischen Situation gekommen ist.
Auf den Spuren der Missionen
Für ihre Forschung ist Tischler oft unterwegs. Drei Monate verbrachte sie kürzlich mit ihrem Ehemann, ebenfalls einem Historiker, und den beiden Töchtern in Ghanas Hauptstadt Accra. Für ihre Studierenden plant sie für 2024 zwei Exkursionen auf den Spuren der christlichen Missionierung: die eine zu den Spitälern, Schulen und Kirchen der früheren Basler Mission in Ghana, die andere zu den Herkunfts- und Ausbildungsorten der Missionare in Basel und Südwestdeutschland.
Bei diesen Reisen «in beide Richtungen» arbeiten Studierende aus Ghana und Basel paarweise zusammen. Die Professorin möchte den Blick weg von den Kolonialmächten und den heutigen westlichen Industrieländern hin zu den Menschen in Afrika lenken. Ein schwieriges Vorhaben, da in den Quellen der Kolonialzeit vor allem Europäer zu Wort kommen.
Quellenstände, gerade in den örtlichen Archiven, sind häufig lückenhaft, nicht zuletzt, weil die Kolonialmächte im Kontext der Unabhängigkeit Akten systematisch vernichteten. «Historisch gewachsene Ungleichheit». Kann und soll Forschung in den vergleichsweise gut situierten Universitäten des Nordens die Probleme Afrikas lösen? Für diesen Kontinent, der noch heute von Kolonialisierung, Unterdrückung und Ausbeutung geprägt ist, brauche es die Geschichtswissenschaft mehr denn je, meint Tischler: «Nur so lässt sich die Gegenwart besser verstehen.»
«Von Afrika lässt sich viel lernen.»
Julia Tischler
Als angenehm empfindet sie es, dass es in ihrer Disziplin sehr viel internationaler, offener und diverser zugehe als in manchen anderen. Eines der Probleme sei aber, dass die meisten Forschenden aus dem globalen Norden kommen und nur wenige aus Afrika selbst. Dabei beginne die Geschichte des Kontinents schon viel früher, lange bevor hier die Schiffe der ersten Weissen landeten, sagt Tischler. Was lässt sich für seine Zukunft tun?
Sinnvoll wäre es, der historisch gewachsenen Ungleichheit etwas entgegenzusetzen, indem man zum Beispiel die heutigen Handelsbeziehungen infrage stellt. Umgekehrt könnten Innovationen aus dem Süden auch in den Industrieländern vorbildlich sein, etwa in Sachen ökologische Wirtschaft, neue Technologien und Gesundheitsversorgung: «Von Afrika lässt sich viel lernen.» (Universität Basel/mc/ps)
Weitere Artikel dieser Ausgabe von UNI NOVA (November 2023).
Julia Tischler ist an der Universität Basel seit 2015 Assistenzprofessorin für Geschichte Afrikas, bevor sie vor drei Jahren zur Associate Professorin befördert wurde. 1982 in Stuttgart geboren, studierte sie in Köln und Stirling (GB) Geschichte und Englisch und bereiste mehrere Länder Afrikas. Darauf forschte sie an der Universität Bielefeld und der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Spezialgebiete sind Sozial-, Wissens- und Umweltgeschichte sowie moderne Agrargeschichte mit Schwerpunkt im südlichen Afrika. Tischler lebt mit ihrer Familie in Riehen.