Zürich – In Krisenzeiten spielen Medien eine besonders wichtige Rolle. Die Berichterstattung war während der Coronavirus-Pandemie qualitativ relativ hoch, wie eine Studie der Universität Zürich zeigt. Defizite gab es jedoch beim Umgang mit Zahlen und Statistiken. Zudem erwiesen sich viele Medien in der sensitiven Phase vor dem Lockdown als zu wenig kritisch.
Selten war ein Thema so stark präsent in den Schweizer Medien wie die Coronavirus-Pandemie: Im ersten Halbjahr 2020 drehte sich an manchen Tagen bis zu 70 Prozent der gesamten Berichterstattung um dieses Thema. Zum Vergleich erreichte der Anteil Beiträge zur Klimadebatte – das prägende Thema im Wahljahr 2019 – in Spitzenzeiten kaum mehr als 10 Prozent der Gesamtberichterstattung. Das zeigen die Ergebnisse des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich, das Medienbeiträge zur COVID-19-Pandemie in der Deutschschweiz und in der Suisse romande zwischen Januar und Juni 2020 anhand von quantitativen Inhaltsanalysen untersuchte.
«Medien sollen Ereignisse einordnen, aus verschiedenen Perspektiven beleuchten sowie eine kritische Distanz zu den Entscheidungsträgerinnen und -trägern wahren. Gerade in ausserordentlichen Situationen wie der Coronavirus-Pandemie, in der vieles unsicher ist, sich die Ereignisse überschlagen und Behörden neue Machtbefugnisse erhalten, sind diese Funktionen unverzichtbar», sagt Mark Eisenegger, Kommunikationswissenschaftler und Direktor des fög.
Hohe Vielfalt und Relevanz
Die Studie zeigt, dass die Medienberichterstattung zur Pandemie ein vielfältiges Spektrum von Themen unter anderem aus Medizin, Politik oder Wirtschaft abdeckt. Expertinnen und Experten spielen dabei eine wichtige Rolle: Sie kommen in 83 Prozent der Medienbeiträge zu Wort. Auch lässt sich eine relativ hohe Relevanz der Medienberichterstattung beobachten. «Die Medien behandeln die Corona-Pandemie und ihre Folgen mehrheitlich aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, statt Einzelaspekte oder -schicksale zu beleuchten. Zudem fällt die Berichterstattung insgesamt sachlich aus», erklärt Eisenegger.
Wenig Diversität bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
Im wissenschaftlichen Bereich dominieren wenig überraschend Expertinnen und Experten aus der Virologie, Epidemiologie oder Immunologie: Unter den 30 Forschenden, die in den Medien im untersuchten Zeitraum am häufigsten Resonanz erhalten, befinden sich lediglich drei Ökonomen. «Obwohl die Pandemie alle Bereiche der Gesellschaft betrifft, finden andere Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie oder Politologie kaum Beachtung», bemängelt Eisenegger. «Wissenschaftlerinnen sind zudem stark unterrepräsentiert». Von den 30 meistthematisierten wissenschaftlichen Expertinnen und Experten sind nur zwei Frauen.
Zu wenig einordnender Umgang mit Zahlen und Statistiken
Während die Studie der Medienberichterstattung in Bezug auf Vielfalt und Relevanz insgesamt eine hohe Qualität zuschreibt, stellt sie bei den Einordungsleistungen Defizite fest. Interpretationsbeiträge, die mit substanzieller journalistischer Recherche Hintergründe vermitteln, machen nur rund 6 Prozent aller untersuchten Beiträge aus. Der Grossteil der Berichterstattung entfällt auf Informationsbeiträge, d.h. auf eine reine Vermittlung von Nachrichten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Medien insgesamt eine kritische Distanz zu Regierung und Behörden wahren. In der sensiblen Phase vor dem Lockdown, in der einschneidende Massnahmen gegen die Pandemie beschlossen wurden, fällt diese jedoch geringer aus. Zudem spielen Zahlen und Statistiken wie Infektions- oder Todesraten eine grosse Rolle bei der Berichterstattung zu COVID-19: In über 27 Prozent der Beiträge stehen diese im Zentrum und bleiben häufig ohne Einordnung.
Hohe Qualität bei öffentlichem Rundfunk und Abonnementsmedien
Die Studie stellt weiter Unterschiede bei den Medientypen fest. Positiv heben sich Abonnementsmedien und der öffentliche Rundfunk ab: Sie zeichnen sich durch eine besonders hohe Vielfalt an Themen und Expertenaussagen, einer höheren Relevanz und mehr Einordnungsleistungen aus. Sonntags- und Wochenmedien sowie der öffentliche Rundfunk wahren gegenüber Behörden und Regierung die grösste kritische Distanz. Boulevard- und Pendlermedien sind in ihrer Berichterstattung weniger vielfältig und neigen zu einer Vermittlung von Zahlen zur Pandemie ohne Einordnung. Eine alarmistisch-dramatisierende, nur auf Bedrohung beruhende Berichterstattung bleibt jedoch auch hier aus.
Sprachregionale Unterschiede bei der Berichterstattung
Die Medien aus der Suisse romande berichten stärker über die Bedrohung des Coronavirus für die Gesundheit, was mit der hohen Infektionsrate in der Suisse romande zu erklären ist. Auf der anderen Seite fällt die Behördenkritik in der Deutschschweiz stärker aus als in der französischsprachigen Schweiz. Die fög-Studie stellt auch deutliche sprachregionale Unterschiede bei den thematisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fest: Während die Medien der Suisse romande beispielsweise den WHO-Experten Tedros Adhanom und Michael Ryan mehr Raum in ihrer Berichterstattung geben, blicken Deutschschweizer Medien stärker nach Deutschland; entsprechend erhält Christian Drosten mehr Resonanz. (Universität Zürich/mc/ps)