Bern – Potentiell belästigende Verhaltensweisen gehören vielerorts zum Arbeitsalltag – und längst nicht immer sind Männer die Täter und Frauen die Opfer. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60). Typische Täter- und Opferprofile gibt es nicht; viel wichtiger ist das Unternehmensklima.
Sexistische Sprüche, schlüpfrige Mails, scheinbar zufällige Berührungen, aufgezwungene Küsse: Es gibt diverse Formen möglicher sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz. Längst nicht immer sind Männer die Täter und Frauen die Opfer, wie die Forschungsgruppe um Franciska Krings von der Universität Lausanne und um Marianne Schär Moser vom Unternehmen «Forschung und Beratung» zeigt.
Subjektive Betroffenheit der Frauen höher
Anhand eigener Befragungen und früher erhobener Zahlen können die Forschenden ein repräsentatives Bild der Verbreitung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Schweiz zeichnen. Insgesamt gab rund die Hälfte der über 2400 befragten Angestellten an, schon einmal eine unerwünschte, potenziell belästigende Verhaltensweise erlebt zu haben – Frauen und Männer in ähnlichem Ausmass. Bei Frauen höher ist allerdings die subjektive Betroffenheit, die nach Gleichstellungsgesetz das Mass für sexuelle Belästigung ist: In der Deutschschweiz fühlten sich rund 31 Prozent aller Frauen am Arbeitsplatz schon einmal sexuell belästigt, in der Westschweiz und im Tessin je rund 18 Prozent. Bei den Männern sind es 11 Prozent (Deutschschweiz), 7 Prozent (Romandie) und 6 Prozent (Tessin). Ein Grund für die höhere subjektive Betroffenheit der Frauen sei, dass sexuell belästigendes Verhalten für sie – aufgrund der traditionellen Machtverteilung in der Gesellschaft und in vielen Unternehmen sowie der körperlichen Kräfteverhältnisse – bedrohlicher sei als für Männer, sagt Krings.
Ein ähnliches Bild zeigte sich bei einer zweiten Befragung, in der 800 Männer und Frauen Auskunft gaben über potentielle sexuelle Belästigung aus Sicht der Verursachenden. 66 Prozent der Frauen und 71 Prozent der Männer räumten ein, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal ein Verhalten gezeigt zu haben, das vom Gegenüber potenziell als belästigend empfunden werden kann, also zum Beispiel sexistische Sprüche gemacht, mit jemandem eine sexuelle Diskussion angefangen, pornografisches Material verteilt oder gar einen Arbeitskollegen unsittlich berührt zu haben. Dabei war den Befragten bewusst, dass ihr Verhalten inopportun und schädlich sei. Überhaupt zeigten die verschiedenen Befragungen einen klaren Konsens, was sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist und dass ein solches Verhalten schädlich ist.
Vergessene Reglemente
Hinweise auf typische Persönlichkeitsmerkmale fanden die Forschenden weder bei Opfern noch bei Tätern. «Es gibt nicht den Täter und das Opfer», sagt Krings. Alle Ergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass die Unternehmenskultur entscheidend ist, ob sexuelle Belästigungen auftreten. In einem sexualisierten Arbeitsklima, bei dem zweideutige Sprüche zum Alltag gehören, ist die Wahrscheinlichkeit von Vorfällen deutlich erhöht. Eine schützende Wirkung hat ein Arbeitsklima, das von gegenseitigem Respekt und ethischen Grundsätzen geprägt ist. Ein Reglement zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz dagegen ist laut den Forschenden zwar eine Basis, reicht aber alleine nicht: Viele Mitarbeitende und sogar Kader wissen es nicht einmal, wenn in ihrer Firma ein solches Reglement existiert.
«Massnahmen zur Verhinderung von sexueller Belästigung sind nötig, und dabei sind Frauen und Männer gleichermassen miteinzubeziehen – beide nicht nur als Opfer, sondern auch als mögliche Verursacher», sagt Krings. Wie eine solche Aufklärungsarbeit aussehen könnte, haben die Forschenden mit einer Begleitgruppe diskutiert, der Vertreter und Vertreterinnen von Bund, Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Gleichstellungsbüros sowie Fachpersonen angehörten. Eine wichtige Empfehlung dieser Begleitgruppe: Kampagnen und allgemeine Prävention gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sollten in einem breiten Kontext stattfinden. Das Thema kann zum Beispiel integriert werden in Massnahmen zur Förderung von gegenseitigem Respekt am Arbeitsplatz. «Das weckt weniger Widerstände als das alleinige Behandeln des Themas Belästigung, bei dem sich gerade Männer oft verdächtigt fühlen», sagt Krings. Wichtig ist aber auch, dass Vorgesetzte hart und rasch durchgreifen, wenn ein Fall von sexueller Belästigung auftaucht: Das hat Signalwirkung und unterstützt die Entwicklung einer respektvollen Unternehmenskultur. Und die Opfer können besser und rascher mit ihrer Situation klar kommen.
Die Zusammenfassung der Studie ist auf der Website des NFP 60 abrufbar: www.nfp60.ch > Projekte > Cluster 1: Arbeit + Organisation (SNF/mc/ps)