Reyl Marktanalyse: Hat Chinas Börse das Schlimmste überstanden?
François Savary, Chief Strategist, Reyl & Cie (Bild: RTS.ch)
Hatte China jemals einen so mächtigen Staatschef wie Xi Jinping? Diese Frage würden viele mit Nein beantworten. Neben seiner Machtfülle übernimmt er auch enorme Verantwortung für die Durchführung von Grossprojekten: Umbau des chinesischen Wirtschaftsmodells und Umgang mit der strukturellen Wachstumsverlangsamung, Korruptionsbekämpfung, Öffnung der Kapitalmärkte oder Umgang mit der Verschuldung, die seit 2008 förmlich explodiert ist.
Von François Savary, Chief Strategist, Reyl & Cie
Angesichts der vielen Hindernisse und Fallstricke auf dem Weg des chinesischen Präsidenten könnte er früher oder später Gegenwind vom kommunistischen Parteiapparat erhalten, da gewisse Parteimitglieder nur darauf warten dürften, den allmächtigen Xi im Falle eines Fehltritts zu attackieren.
Der aufgeklärte Dirigismus erhält einen Dämpfer
Vor diesem Hintergrund sollte die Volatilität, die in den letzten Monaten an den chinesischen Börsen verzeichnet wurde (Rückgang um 30% des Shanghai-Index innerhalb weniger Wochen), als Warnschuss betrachtet und aus mehreren Gründen genau im Auge behalten werden. Zunächst weil dadurch diejenigen in die Schranken gewiesen werden, die das chinesische Modell und dessen Fähigkeit gepriesen hatten, wirtschaftliche und finanzielle Turbulenzen zu meistern. Sie vertraten die Ansicht, China habe eine Alternative zum mangelhaften Marktsystem gefunden, eine Art aufgeklärten Dirigismus. Die letzten Wochen haben dieser absurden Idee einen starken, wenn nicht tödlichen Schlag versetzt und gezeigt, dass exzessive Verschuldung und Spekulation keineswegs Verwerfungen sind, die nur im liberalen angelsächsischen Modell auftreten.
Einige können sich – aus unserer Sicht etwas zu früh – über das schnelle Eingreifen der Regierung in Peking freuen, die versucht, den Börsencrash zu bremsen. Liquiditätsspritzen, Verkaufsverbote für Grossaktionäre oder die Aussetzung vom Handel; diese Massnahmen haben das effiziente Funktionieren des Marktes stark beeinträchtigt und das Vertrauen der Marktteilnehmer ernsthaft beschädigt. Sie wissen nun, dass je nach Bedarf in den Markt eingegriffen werden kann. Das ist eine Erkenntnis, die der finanziellen Stabilität auf lange Sicht nur abträglich sein kann. Die chinesischen Entscheidungsträger werden einen Preis zahlen müssen, der über die Beträge hinausgeht, die im Juni und Juli zur Stützung der Märkte eingesetzt wurden. Und das auch über einen sehr viel grösseren Zeitraum.
Rasanter Anstieg der Verschuldung und Immobilienblase
Die Aufnahme chinesischer Aktien in die MSCI-Indizes, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Aufnahme des Renminbi in den SZR-Korb (Sonderziehungsrechte) des IWF werden sicherlich aufgeschoben. Dies könnte dem Ansehen von Xi Jinping und dem globalen Führungsanspruch Chinas schaden. Der jüngste Börsencrash in China offenbart ein grundlegendes Dilemma, mit dem China seit mehreren Jahren konfrontiert ist: Es gilt zwei unvereinbare Probleme durch wiederholten Einsatz geldpolitischer Instrumente zu lösen. Die chinesische Wirtschaft wurde seit 2008 mit massiven Konjunkturprogrammen gestützt (Wachstum von 10% bis 11 %). Die Folge war jedoch ein rasanter Anstieg der Verschuldung auf aktuell 250% des BIP. Dies sowie die Immobilienblase und die Verschlechterung der finanziellen Situation der lokalen Regierungen haben Peking dazu veranlasst, die geldpolitischen Zügel ab 2012 anzuziehen, was wiederum einen „Einbruch“ des Wirtschaftswachstums zur Folge hatte, das sich nun der Marke von 7% nähert.
Von Export- zu Binnenwirtschaft
Xi Jinping und seinen Mitstreitern müsste also gewissermassen die Quadratur des Kreises gelingen. Um die Konjunktur zu stützen, deren weitere Verlangsamung zu sozialen Unruhen führen könnte, hat die Regierung in Peking seit 2014 eine lockere Zinspolitik gefahren, was wiederum seit zwei oder drei Quartalen die „Blase“ an der chinesischen Börse genährt hat. Es ist ein regelrechter Teufelskreis! Der finanzielle Schock an der chinesischen Börse zu Beginn des Sommers ist alles andere als harmlos. Er zeigt erneut die Schwächen des chinesischen Modells und die Schwierigkeit, die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme zu lösen. Zumal der Wandel von einer exportgetriebenen hin zu einer stärker binnenwirtschaftlich orientierten Ökonomie unvermeidbar ist.
Volle Konvertierbarkeit und freier Kapitalverkehr?
Man versteht, warum Peking seine Währung seit mehreren Monaten aktiv gegenüber dem US-Dollar stützt, auch wenn dadurch die Währungsreserven sinken. Darüber hinaus dürfte die angestrebte Aufnahme des Renminbi in den SZR-Korb mit den stabilisierenden Massnahmen der chinesischen Notenbank im Zusammenhang stehen. Dies führt uns zur Frage einer grösseren internationalen Rolle Chinas auf wirtschaftlicher und finanzieller Ebene sowie innerhalb der Bretton-Woods-Institutionen. Notwendige Voraussetzungen dafür sind die volle Konvertierbarkeit seiner Währung und somit freier Kapitalverkehr. Die jüngsten Entwicklungen an der chinesischen Börse haben selbstverständlich die Erwartungen für den Zeitplan dieser wichtigen Entscheidungen gedämpft, die jedoch unumgänglich sind.
Xi Jinging wird von einigen als zu mächtig angesehen, die zudem der Ansicht sind, dass diese Macht eines Einzelnen nicht mit dem bisherigen Führungsstil der Kommunistischen Partei vereinbar sei. Er steht vor enormen Herausforderungen. Die finanzielle Instabilität und der jüngste Börsencrash erschweren seine Aufgabe umso mehr. Der Spielraum für Fehler wird kleiner. Die Interventionen haben für Beruhigung gesorgt, zumindest zeitweise. Man sollte sich jedoch keinen Illusionen hingeben. Dabei kann es sich keinesfalls um eine endgültige Lösung handeln. Früher oder später muss der Weg der Liberalisierung fortgesetzt werden. Wir sind der Ansicht, dass China in den nächsten zwei bis drei Jahren ein erhebliches strukturelles Risiko für die Weltwirtschaft bleiben wird. Zuversichtlich stimmen allerdings die jüngsten BIP-Zahlen, die auf eine Stabilisierung der Konjunktur hoffen lassen. Man sollte das Thema China jedoch keinesfalls als erledigt erachten. Ganz im Gegenteil!