Robert Jakobs Wirtschaftslupe: Die neue Abseitsregel

Ihn fürchten die meisten Franzosen mehr als Marine Le Pen: Jean-Luc Mélenchon, Chef der radikalen Linken.

Von Robert Jakob

Vorgezogene Neuwahlen galten für lange Zeit als Allheilmittel für Bereinigungen der politischen Landschaft. Das ist nun vorbei. Am 4th Day of July.

Die mächtigsten Männer der beiden grössten europäischen Volkswirtschaften nach Deutschland leisteten sich kurz hintereinander eine Va-Banque-Strategie, die ins Auge ging. Sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als auch Grossbritanniens Premierminister Rishi Sunak provozierten die Auflösung des Parlaments. Die britische Nummer 1 liess die Neuwahl ausgerechnet für den symbolträchtigen US-amerikanischen Nationalfeiertag ausrufen. Das war wohl zu viel der taktischen Übertreibung. Die Wähler straften die Tories mit der absoluten Mehrheit der Labour Party ab. Selten ging ein politischer Schuss dermassen nach hinten los. Die Abgehobenheit der Tories, die seit Boris Johnson Wasser predigten und öffentlich Wein tranken, brachte das Fass zum Überlaufen.

Ein paar Tage zuvor war Frankreichs Emmanuel Macron mit nur drittbestem Stimmenanteil im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen gescheitert. Am darauffolgenden Wochenende kam es zur Stichwahl. Meinungsumfragen im Vorfeld sahen die Rechtsaussenpartei Rassemblement National vorne. Meine Familie trabte im Lycée Français in Dübendorf an.

Am Ausgang konnte ich einige Auslandsfranzosen befragen. Die meisten fanden die Partei von Marine Le Pen indiskutabel, machten aber dem Führer des Bündnis Ensemble, Staatspräsident Emmanuel Macron, den Vorwurf der elitären Abgehobenheit. Gesamtfranzösisch wurden die nationalistischen Populisten von rechts und links so stark wie nie. Darüber kann der zweite Platz von «Ensemble» bei der Stichwahl nicht hinwegtäuschen. Die Mitte blieb schwach wie nie zuvor.

Risikostrategie oder Aktivismus?
All der Zirkus, den Macron heraufgeschworen hat, weil er hoffte, dass die Franzosen nach dem hervorragenden Abschneiden Marine Le Pens bei den Wahlen zum Europaparlament bei vorgezogenen Neuwahlen ihm das Vertrauen aussprechen würden, ist verpufft. Die Europawahl sollte nur ein kleiner Denkzettel bleiben, so Macrons Überlegung und schliesslich enttäuschte Hoffnung. Dass er dabei nicht auf die schlechten Umfrageergebnisse im Vorfeld gehört hat und alle Warnungen in den Wind schlug, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er impulsiv das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen wollte. Was das Wahlvolk nicht guttierte, war Macrons Missbrauch der Demokratie für politische Schachzüge.

Diese Spielermentalität Macrons hat nun eine Cohabitation (in der französischen Politik das Synonym für «sich Zusammenraufen») verursacht, die es in sich hat. Eines der grössten Probleme ist dabei Jean-Luc Mélenchons Partei La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich). Der Chef der radikalen Linken hat denn auch sogleich nach der Wahl seine Führungsansprüche innerhalb des Linksbündnisses angemeldet. Die meisten Franzosen fürchten ihn mehr als Marine Le Pen.

Mélenchon ist ein Hetzer, der Politik vornehmlich in den sozialen Medien macht und für seine Wutausbrüche bekannt ist. Legendär ist sein Auswurf: «la République, c’est moi!» und sein Verhältnis zur Presse. Die Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind für ihn Lügner und Idioten. Das sind aber schon die einzigen Parallelen zu den USA. Um Mélenchon scharen sich antisemitischen und antideutschen Linksradikale, und der Parteiführer ist Putin noch näher als Marine Le Pen.

Dass der Präsident einen Mélenchon zum Premierminister macht, dürfte ausgeschlossen sein. Aber Macron wird mit seiner parlamentarischen Minderheit dermassen viele Kompromisse und Winkelzüge machen müssen, dass die französische Politik lange Zeit unberechenbar sein wird. Mit seiner Spielerei hat Emmanuel Macron der Italianisierung Frankreichs Vorschub geleistet. Die Rating-Agenturen werden ein scharfes Auge auf das Hexagon haben. Im Nachbarland Italien ist jetzt übrigens die 68. Regierung seit 1946 am Ruder.


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