Von Robert Jakob
Die Olympiade 2024 in Frankreich hat die Herzen erobert. Es gelang, das Böse und das Hässliche in der Welt für gut zwei Wochen zu vergessen. Es waren Spiele, wie sollte es in Frankreich anders sein, des guten Geschmacks. Die Organisation war nahe der Perfektion, was auch dem intelligenten Sicherheitskonzept zu verdanken war. Störenfriede und Attentäter gab es im Vorfeld ja zur Genüge. Umrahmt wurde die Feierstimmung durch spektakuläre Eröffnungs- und Schlusszeremonien, die wortwörtlich alle Athleten und Hilfskräfte mit ins friedliche Boot nahmen.
Spieltheorie der Spiele
Traditionell herrscht in unserer Familie während olympischer Spiele eine Art medialer Ausnahmezustand. Das liegt auch daran, dass sie seltener vorkommen als Weltmeisterschaften oder Weihnachten. Was uns in erster Linie interessiert, sind die Medaillen, und wie es dazu kommt. In meiner unmittelbaren sportbegeisterten Verwandtschaft haben allein vier verschiedene Personen fünf Staatsmeistertitel. Ich selbst habe zwei Deutsche Meisterschaften in einer Randsportart (Kleingolf).
In der Schule war ich der erste, der den Fosbury-Flop praktizierte und damit seine eigene Körpergrösse übersprang. (A.d.R., früher würgten sich Hochspringer bäuchlings in der Luft liegend um die Latte, der Stil hiess Straddle. Davor gab es den für heutige Augen steinzeitlich anmutenden Scherensprung.) Mit der Zentrifugalkraft im Rücken ging es gemäss der Devise der Olympischen Spiele: «citius, altius, fortius» vor allem in den mittleren Bereich, also altius, höher hinaus. Mit 175 cm war damit trotzdem ausserhalb der Schule kein Staat zu machen. Aber fasziniert hatte mich Hochsprung auch weiterhin, wenn auch nur am Fernsehen.
Die Vergabe der Olympiamedaillen 2024 im Hochsprung hatte in jeder Beziehung das Zeug für griechisches Drama. Als der Neuseeländer Hamish Kerr zu seinem dritten und letzten Sprung über 2,38m ansetzte, hätte er gewinnen können. Aber er sprang nicht über die Latte, sondern tauchte elegant unter ihr hindurch und liess sich zufrieden auf die Matte fallen. Reporter interpretierten dies als das Ende des Finales. Bei exaktem Gleichstand und dreimal gerissener Höhe müssen die Konkurrenten nicht weiterspringen und können sich die Medaille teilen. Falsch und noch viel besser: Sie erhalten jeder eine. Es gibt also zwei Goldmedaillen.
Inverted Golden Goal
Dann Getuschel unter den sportlichen Konkurrenten. Und mancher Journalist schüttelte den Kopf. Kerr und sein amerikanischer Kontrahent Shelby McEwen wollen weitermachen. Sie gehen in ein umgekehrtes Stechen: Die Latte wird schrittweise runtergesetzt, bis ein Konkurrent sie wieder als erster überspringt. Das ist eine Art «inverted golden goal for high jumper». Mich stört daran, dass der weniger Schlechte selektiert wird, wenn man die Latte kontinuierlich nach unten schraubt.
Nicht alles, was Kerr und McEwen vor und während des Wettkampfes austauschten, ist öffentlich. Kerr gab an, wie bereits Monate zuvor gegenüber einem Mannschaftskollegen eher beiläufig geäussert, etwas Besonderes leisten zu wollen: «Geschichte schreiben». Offenbar wünschte er keine Wiederholung der Geschehnisse von Tokio 2021. Dort teilten sich Mutaz Essa Barshim aus Katar (die Bohnenstange) und der Italiener Gianmarco Tamberi (der beim Rasieren immer eine Gesichtshälfte vergisst) die Hochsprung-Goldmedaille. Sie waren damals müde, leicht angeschlagen und befreundet. Auch McEwen fühlte sich müde, aber er wagte nicht, Kerr zu widersprechen. Gleichzeitig glaubte er an die Chance auf das höhere Preisgeld. Dies hätten sich die Athleten bei einer Entscheidung für das Doppel-Gold teilen müssen. „Ich habe eine Familie zu ernähren“, warf er ein.
Spieltheoretisch hatte McEwen – zumindest was das Geld betrifft – die richtige Entscheidung getroffen, denn für seine Silbermedaille hatte er mehr Geld bekommen als für geteiltes Gold. Punkto Vermarktung der Goldmedaille dürfte sich der Unterschied von Gold zu Silber in überschaubaren Grenzen halten. Das musste bereits Dick Fosbury (alleiniger Olympiasieger 1968 in Mexiko) seinerzeit feststellen. Hochsprung endet nicht in der Goldgrube.
Kleingolf erst recht nicht. Dort kommt es aber häufig zum Stechen. In meiner kurzen erfolgreichen Laufbahn hatte ich jede derartige Ausmarchung gewonnen. Eine Rangteilung sahen die Regelwerke nie vor. Hätte es aber bei Gleichstand eine wie auch immer geartete Goldmedaille mit jemandem zu teilen gegeben, so hätte ich es getan, trotz meiner Vorgeschichte als nervenstarker Stecher, es sei denn, die Person wäre mir abgrundtief zuwider gewesen. Am 20. Juli 2021 beschloss das IOK übrigens auf Vorschlag seines Präsidenten Thomas Bach bei seiner 138. Session in Tokio die neue Formulierung citius, altius, fortius – communiter (zu Deutsch: schneller, höher, stärker – gemeinsam) als Olympische Devise. Am 1. August hauchten Tamberi und Barschim mit ihrer Doppel-Olympiagoldmedaille mit gesprungenen 2,37m dem Vorsatz sogleich Leben ein.
Beim Sport kann es auch mal ganz schnell um die Weltherrschaft gehen
McEwen erntete in den sozialen Medien einen Shitstorm, teils aufgrund eines amerikanischen Bonmots, das oft etwas arg wörtlich genommen wird: «Der Zweite ist der erste Verlierer.» Aber auch, weil durch das verlorene Gold den USA im Medaillenspiegel eine Goldmedaille abhandengekommen war. Seit DDR und Sowjetunion geht es im Sport auch um einen versteckten Wettkampf der Systeme.
Da am letzten Wettkampftag der Olympiade die amerikanischen Volleyballerinnen im Finale versagten, mussten die Basketballerinnen gewinnen, wollten die USA China noch im Wettrennen um die erfolgreichste Sportnation der Welt gerade noch mal so abfangen. Im alles entscheidenden Finale gegen Frankreich drehten die US-Girls das Spiel kurz vor Schluss. Der Ausgleich der Französinnen wäre genau mit der Schluss-Sirene gefallen, hätte der Wurf der Französin Gabby Williams (eigentlich eine französisch-amerikanische Doppelbürgerin) drei statt zwei Punkte gebracht. Aber leider stand sie mit den Zehenspitzen bei der Ballabgabe knapp im Zweipunktewurfkreis. Nicht auszudenken, was die amerikanische Öffentlichkeit mit Shelby McEwen gemacht hätte, wenn die Französinnen doch noch den eigentlich verdienten Sieg eingefahren hätten.
Zu guter Letzt habe ich einen Vorschlag. Um die Zahl der Finals bei weit über dreihundert Wettkämpfen etwas zu begrenzen und das Frustpotential mancher Athleten zu senken, kann man von mir aus gerne in einigen Sportarten kampflos zwei Bronzemedaillen vergeben. Das würde die geteilte Goldmedaille und die Silbermedaille (erster Verlierer) aufwerten.
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