Von Robert Jakob
Als ehemaliger Einwohner der Alpenrepublik Österreich komme ich nicht umhin, Vergleiche zu meinem Lebensmittelpunkt Schweiz anzustellen.
Was beiden Republiken gemeinsam ist – ausser der rotweissen Fahne mit unterschiedlichem mathematischem Operator (Schweiz mit Plus, Österreich mit Minus) – das ist Neutralität. Die wird in der Schweiz von vielen als DNA angebetet. Als Mikrobiologe und Chemiker nervt mich zwar der in Wirtschaftspublikationen überstrapazierte englische Begriff «Deoxyribonucleic Acid» = DNA, für etwas so Simples wie Erbgut oder Gene. Aber eines stimmt. Die Schweizer Neutralität liegt erbtechnisch viel weiter zurück als die von Österreich.
Nichtsdestotrotz reklamiert auch der Ostalpenstaat die politische Unparteilichkeit im internationalen Umgang für sich. Zumindest seit dem zweiten Weltkrieg – genaugenommen seit 1955 gemäss der österreichischen Verfassung.
Östereiertanz
Um diese Neutralität veranstaltet das Land seit vielen Monaten einen Eiertanz. Hintergrund sind die traditionell bedeutenden wirtschaftlichen Verbindungen mit Osteuropa. Die liegen historisch wiederum viel weiter zurück als diejenigen der Schweiz.
Die überwiegende Mehrheit der vor dem Ukrainekrieg in Russland aktiven österreichischen Unternehmen ist auch weiterhin in Russland tätig. Vor allem in den Bereichen Maschinen, Chemie und Finanzdienstleistungen. Politiker hüten sich, der heimischen Wirtschaft Steine in den Weg zu legen. Kanzler Karl Nehammer von der ÖVP schweigt sich aus, und seine Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt, Magistra Karoline Edtstadler, durfte – in der Nachrichtensendung ZIB (Zeit im Bild) zum Thema befragt – herumschwadronieren, dass Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Frieden in der identitätsstiftenden Neutralität Österreichs begründet seien. Das soll wohl der ultimative Freibrief fürs Wegschauen sein.
Man kann niemandem das Geschäften komplett verbieten. Aber man sollte doch bitte nicht seine Interessen mit einem Mäntelchen verdecken.
In seinen Zeitungskolumnen weibelt der Chefdenker der SVP, Christoph Blocher, Woche für Woche gegen eine klare Positionierung der Schweiz im Ukrainekrieg: «Um sich als Kriegspartei zu bestätigen, vollziehen die Politiker leichtfertig wirtschaftliche Kriegsmassnahmen und machen die bewährte schweizerische Neutralität unglaubwürdig.»
Sorry. Habe ich da etwas versäumt? Wo bitte betätigt sich die Schweiz als Kriegspartei?
Fünfer und Weggli
Die Journalisten von Tagesanzeiger über Blick bis Watson erinnern sich noch mit Schrecken, wie Blocher in einem besonders wirren Zeitungskommentar Waffenlieferungen der Schweiz für den Tod armer russischer Teenagersoldaten verantwortlich machte.
In der Zugerwoche und anderen Blochermedien vergeht mittlerweile keine Woche, ohne dass deren Verleger zur Ukraine in Stellung geht. Besonderes Highlight sind seine Zirkelschlüsse der schrägen Art. In seinen diversen Lokalzeitungen muss Christoph Blocher immer wieder über Asylmissbrauch jammern. Neu rückt er das ewig wiedergekaute Thema direkt textlich mit den 70’000 aufgenommenen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zusammen. Leute sehet die Gefahr, will er uns allen augenzwinkernd zustecken.
Die Ems-Chemie seiner Tochter macht Geschäfte mit Russland. Ems hat dort immer noch zwei Firmen mit 37 Angestellten. «Ich will diese nicht dem russischen Staat überlassen», sagt Magdalena Martullo-Blocher, und ihren Ärger darüber muss man verstehen. Denn am liebsten würde der Kreml alles einfach gratis einsacken.
Aber das ändert nichts daran, dass die Schweiz nicht im Geringsten in den Krieg eingreift, lediglich in der kranken verdrehten Realität der Kremlings. Das tut die Eidgenossenschaft definitiv nicht, wenn sie die Sanktionen wegen Völkerrechtsbruch mitträgt. Die Schweiz verteidigt die Demokratie als «Basis der eidgenössischen Freiheit», und das kostet. Aber leider hat die Ems-Chemie die Polemik ihres Vaters übernommen. Auch ein kleines Prozent Umsatz ist Geld. Aber Freiheit für Bürger geht nicht ohne Demokratie. Das hat die Geschichte gelehrt, und das zeigt sie in diesem neuen Jahrzehnt leider hautnah. Dabei hat es die Schweiz, ungeachtet der realen riesigen Belastungen durch 70’000 Ukraine-Flüchtlinge, einfach.
Sie profitiert als kleines Land stark von der internationalen Sicherheits- und Rechtsordnung, wie zahlreiche ausländische Militärs und Diplomaten nicht müde werden zu betonen. Wenn das Parlament entscheidet, dass die Schweiz mehr Panzer hat, als sie zur Landesverteidigung benötigt, ist es ein leichtes, diese ausser Dienst gestellten Panzer ihren Verbündeten wie Deutschland oder Tschechien zu verkaufen, wenn sich die beiden Länder verpflichten, sie nicht in Kriegsgebiete zu exportieren. Denn damit werden die «Konföderierten» nicht in den Krieg eingreifen. Da kann der neue Präsident und Blochers Wasserträger der AUNS-Nachfolgeorganisation Pro Schweiz, Stephan Rietiker, noch so toben und Russland erst recht. Das Putin-Regime verdreht ohnehin selbst die einfachsten Fakten. Eine publikumswirksame Neutralitäts-Initiative braucht es daher nicht. Sie ist nur wieder ein PR-Gag der SVP.
Die Schweiz bleibt weiter neutral, aber bekämpft geschickt jede Form von Barbarei, indem sie Deutschland und Tschechien bei der Selbstverteidigung hilft. Und als Nebenprodukt wäre die Kuh einer diplomatischen Verstimmung mit dem grössten Handelspartner Deutschland und der EU vom Eis.
Unsichere Zeiten machen uns Menschen Angst. Sie kann unser Handeln lähmen. Welchen Ausweg gibt es aus diesem Teufelskreis, und wie trifft man unter Druck die richtigen Entscheidungen?
Am 6. März erschien ein einfach-gestrickter Ratgeber zum Umgang mit Ängsten aus dem Patmos Verlag von Dr. Christian Firus (ISBN 978-8437-1458-0), 208 Seiten, 20 Euro.