Schwellenländer: Warum die Anlageklasse die «Mühe» wert ist
Von Devan Kaloo, Global Head of Equities, abrdn
Angesichts ihrer Kritiker untersuchen wir, warum die Schwellenländer im zweiten Quartal und darüber hinaus weiterhin ein erhebliches Potenzial aufweisen.
In einem Bericht über die wichtigsten strategischen Anlagethemen für das Jahr 2024 und darüber hinaus äusserte sich ein Analyst eines globalen Finanzinstituts zu der wahrscheinlichen anhalten-den Dominanz und Outperformance von US-Anlagen und dem voraussichtlich noch länger erhöhtem Zinsniveau («Higher-for-longer») der US-Notenbank (Fed).
«Higher for longer» ist für Schwellenländeranlagen „harder for longer“, da sich ihre Widerstandsfähigkeit nicht unbedingt in Portfoliozuflüssen niederschlägt», so der Analyst. «Ein einstelliges Aufwärtspotenzial für Schwellenländer-Anleihen und -Aktien wirft die Frage auf: Warum sollte man in Schwellenländer investieren, wenn man +5% in US-Anleihen bekommen kann?» [1]
«Wozu die Mühe?»
Auch wenn kurzfristige Faktoren die Attraktivität der Schwellenländer für einige Anleger geschmälert haben mögen, bleiben wir hinsichtlich der Aussichten für die Schwellenländer im zweiten Quartal und in absehbarer Zukunft optimistisch. Die Underperformance der Schwellenländeraktien in zwei aufeinanderfolgenden Jahren bedeutet, dass der Abschlag zu den Aktien der entwickelten Länder (DM) nun einen historischen Tiefstand erreicht hat (Abbildung 1).
Abbildung 1: Relativer Abschlag der Schwellenländer bleibt beträchtlich
Das derzeitige Umfeld noch länger höherer Zinssätze ist in den DM aufgrund der hohen Schulden-last nicht nachhaltig. Der Fed-Vorsitzende Powell erklärte kürzlich, dass die anhaltende Stärke des US-Arbeitsmarktes einfach kein ausreichender Grund ist, um mit einer Zinssenkung zu warten [2]. Daher gehen wir davon aus, dass die Anleger angesichts der zu erwartenden Wende im Zinszyklus die Schwellenländer aktiver ins Auge fassen werden.
Mit Blick auf die Zukunft glauben wir, dass drei Schlüsselthemen unseren positiven EM-Ausblick stützen.
Höchststand der US-Zinsen
Nachdem sich die US-Wirtschaft im Jahr 2023 als ausserordentlich widerstandsfähig erwiesen hat, wird sie sich wahrscheinlich abschwächen (auch wenn ein deutlicher Abschwung vermieden wird). Aufgrund der massiven Staatsverschuldung hat die US-Finanzpolitik wenig Spielraum, um das verlangsamte Wachstum zu unterstützen. Die US-Notenbank wird wahrscheinlich die meiste Arbeit leisten, indem sie die Zinssätze allmählich senkt, wobei sie sich jedoch davor hütet, sie zu früh oder zu stark zu senken. Jede bevorstehende Schwäche des US-Dollars wäre ein Segen für die Schwellenländer, da dies ihre Kapitalkosten senkt.
Da die Inflation in vielen Teilen der Schwellenländer in der Nähe der Zielwerte liegt, sind deren Zentralbanken in der Lage, noch vor der Fed mit Zinssenkungen zu beginnen. Polen, Brasilien und Chile haben bereits den Abzug betätigt. Wir glauben, dass dies die Volkswirtschaften der Schwellenländer unterstützen wird, wie auch die Differenz bei den realen Zinssätzen bereits zeigt (Abbil-dung 2).
Abbildung 2: Die Zentralbanken der Schwellenländer sind in der Lage, vor der Fed mit den Zinssenkungen zu beginnen
Seit 2006 wurde das relative Ertragswachstum der Schwellenländer durch die Differenz der Realzinsen zwischen den Schwellenländern und den entwickelten Märkten bestimmt. Derzeit deutet die Zinsdifferenz darauf hin, dass die Erträge der Schwellenländer im nächsten Jahr stärker steigen werden als die der DM.
Ausserdem sind die Bilanzen der Unternehmen in den Schwellenländern aus der Pandemie gestärkt hervorgegangen. Im Gegensatz dazu sehen sich US-Unternehmen, die die extrem niedrigen Zinssätze nutzten, um sich zu verschulden und Aktienrückkäufe zu finanzieren, nun mit höheren Kosten für die Kreditaufnahme und den Schuldendienst konfrontiert. Unterdessen sind die Bewertungen der Schwellenländer bereits niedrig, was bedeutet, dass es Spielraum für eine erhebliche Rotation zurück in die Schwellenländer gibt.
Da die Märkte im Laufe der Zeit eine differenziertere Betrachtungsweise an den Tag legen, dürfte sich eine grössere Kluft zwischen stärkeren und schwächeren Unternehmen auftun. Unserer Meinung nach unterstützt dies einen qualitätsorientierten Investmentansatz.
Rückenwind für Investitionen
Wir glauben, dass die Zeit für die Schwellenländer reif sein könnte, um ins Rampenlicht zu treten, und zwar aufgrund der folgenden Faktoren:
Hardware-gesteuerter Technologiezyklus
Frühere und aktuelle Zyklen wurden von E-Commerce und Software angeführt. Im Gegensatz dazu wird der aktuelle Technologiezyklus durch die Anwendung und Integration von künstlicher Intelligenz (KI) angetrieben. Dies ist eine hardwareintensive Entwicklung, die erhebliche Auswirkungen auf die Schwellenländer haben wird. Viele Schwellenländer beheimaten einige der weltweit führenden Hersteller von Mikrochips und/oder Komponenten zur Herstellung der dazugehörigen Teile. Viele dürften davon profitieren, wenn Länder und Unternehmen ihre Ausgaben für KI erhöhen.
Grüner Übergang
Der Spielraum für Kapitalanlagen in rohstoffreichen Schwellenländern verschiebt sich. Der Vorstoss für einen grünen Wandel treibt Investitionen in erneuerbare Energien und die entsprechende Infrastruktur voran. Zu den Projekten gehören der Aufbau von Stromnetzen, die sich auf saubere Energie stützen, oder die Errichtung eines Netzes von Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Viele der für umweltfreundlichere Technologien benötigten Materialien wie Kupfer und Platin werden in den Schwellenländern, insbesondere in Lateinamerika, abgebaut. Es wird prognostiziert, dass die Nach-frage nach Kupfer, das unter anderem in der Photovoltaik, der Windenergie und der Netz-gebundenen Speicherung zum Einsatz kommt, von rund 25.000 Kilotonnen im Jahr 2022 auf fast 40.000 kt im Jahr 2050 steigen wird (Abbildung 3) [3].
Abbildung 3: Nachfrage nach Kupfer steigt weiter an
Nearshoring
Auch bei den Investitionsausgaben (CapEx) ist ein Anstieg zu verzeichnen, da die Unternehmen ihre Lieferketten risikoärmer gestalten (Abbildung 4).
Abbildung 4: Ein Anstieg der Investitionsausgaben ist ein gutes Zeichen für die Unternehmen der Schwellenländer
Multinationale Unternehmen diversifizieren ihre Beschaffungsquellen aufgrund geopolitischer Risiken, der Notwendigkeit höherer betrieblicher Widerstandsfähigkeit nach einer Pandemie und höherer Löhne in China. Viele verfolgen eine «China-plus-eins»-Strategie und verlagern einen Teil der Produktion von China in andere kostengünstige Schwellenländer. Die Diversifizierung der Lieferketten dürfte ausländische Direktinvestitionen fördern und die Produktion ankurbeln. Dies wird die Schwellenländer stärken und eine Erholung der inländischen Erträge unterstützen.
Indien im Vordergrund
Die Schwierigkeiten Chinas haben ein Schlaglicht auf andere Schwellenländer geworfen. Indien ist nach wie vor ein aufstrebender Stern, der von einer robusten Binnenwirtschaft gestützt wird, die eine starke Dynamik aufweist. Unternehmen, die ihre Abhängigkeit von China verringern wollen, verlagern ihre Tätigkeit nach Indien, angezogen von den jungen und gut ausgebildeten Arbeitskräften und dem grossen Binnenmarkt. Die engen geopolitischen Beziehungen zu den USA sind ermutigend und verheissen Gutes für den künftigen Handel. Die Inflation ist unter Kontrolle und die Zentralbank ist bereit, die Zinsen zu senken. Ein potenzielles Risiko sind die bevorstehenden Parlamentswahlen. Es wird jedoch erwartet, dass die amtierende Regierung an der Macht bleibt und die Kontinuität der Politik gewährleistet ist.
Chinas Konsumerholung hat begonnen
Die Performance Chinas im Jahr 2023 erinnerte an die Volatilität der Schwellenländer. Auch wenn es echte Gründe zur Besorgnis gibt, hat sich eine Diskrepanz zwischen der Stimmung – wie sie sich in Bewertungen und Schlagzeilen ausdrückt – und der wirtschaftlichen Realität vor Ort gebildet.
Die Indikatoren für den Konsum und das verarbeitende Gewerbe zeigten gegen Jahresende Anzeichen einer Verbesserung. Die Konjunkturdaten deuten darauf hin, dass die Wirtschaft auf festeren Füssen steht. Trotzdem werden Onshore-Titel zu historisch niedrigen Bewertungen gehandelt.
Wir sind aus folgenden Gründen zuversichtlich, was die chinesische Wirtschaft angeht:
Tempo der Erholung
In den letzten drei Jahren sahen sich chinesische Unternehmen mit beispiellosen Herausforderungen wie Covid, der schwachen Nachfrage und betrieblichen Problemen konfrontiert. Dennoch sind die Exporte stark, die Einzelhandelsumsätze steigen und die Sparquoten normalisieren sich. Das Gewinnwachstum ist im Vergleich zu anderen Aktienmärkten günstig: Die Gewinne in China sind im letzten Jahr schneller gewachsen als in den USA, und es wird erwartet, dass dies auch in diesem Jahr der Fall sein wird (Abbildung 5).
Abbildung 5: Ertragserholung in den Schwellenländern
Politische Unterstützung
Chinas Regierung hat verschiedene gezielte Massnahmen ergriffen, um bestimmte Sektoren wie Konsum und Immobilien zu unterstützen. Auch wenn wir noch keine gross angelegten, direkten fiskalischen Anreize gesehen haben, sollte die kumulative Wirkung dieser Initiativen nicht unter-schätzt werden.
Wir gehen davon aus, dass die Unterstützung fortgesetzt oder verstärkt wird, um das Vertrauen und die Aktivität zu stärken, da sich die chinesische Wirtschaft auf den Konsum und die wertschöpfende Produktion verlagert.
Trendwende bei Immobilien
Der Immobiliensektor war eine grosse Belastung für die chinesische Wirtschaft. Doch Massnahmen wie der erleichterte Zugang zu Hypotheken und Stadterneuerungspläne dürften den Markt langfristig stabilisieren. Wir gehen davon aus, dass der enorme Nachholbedarf an Immobilien, insbesondere in den Tier-1-Städten [4], mit der Zeit zu einer Trendwende führen wird. Dies dürfte das Verbrauchervertrauen und die Ausgaben ankurbeln.
Abschliessende Gedanken…
Wir sind weiterhin zuversichtlich und sehen erste Anzeichen für das langfristige Potenzial der Schwellenländer. Die Zentralbanken werden die Zinsen noch vor der Fed senken, was die Wirtschaftstätigkeit ankurbeln wird. Der grüne Wandel und die Verringerung des Risikos in den Liefer-ketten führen zu einer verstärkten Kapitalallokation in ressourcenreiche Schwellenländer. Viele Unternehmen aus Schwellenländern stehen an der Spitze von Zukunftstrends – von erneuerbaren Energien bis hin zu Halbleitern, die für 5G und KI unerlässlich sind. Die Bewertungen sind derweil auf historischen Tiefstständen.
Die Frage ist also nicht, ob man sich mit Schwellenländern beschäftigen sollte, sondern eher, ob man es sich leisten kann, es nicht zu tun. (abrdn/mc/ps)
1) «Emerging markets face ‹why bother?› problem.» Reuters, January 2024.
2) «Fed meeting recap: Everything Powell said during Wednesday’s market-moving news conference.» CNBC, March 2024.
3) «Total demand for key minerals.» Critical Minerals Data Explorer. International Energy Agency, July 2023.
4) Zu den Tier-1-Städten in China gehören Peking, Shanghai, Guangzhou, Tianjin und Chongqing.