Von Caroline Hilb Paraskevopoulos, Leiterin Anlagestrategie und Analyse der St.Galler Kantonalbank
St. Gallen – Unsicherheit und positive Aktienmärkte – das geht nicht zusammen. Die aktuelle Ausgangslage ist unverändert fragil, wir achten aber auf Wendepunkte, weil die Aktienmärkte oft sechs Monate im Voraus eine positive Entwicklung vorwegnehmen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Geldpolitik und Inflation, Konjunkturentwicklung und Gewinnschätzungen, Energielage und Geopolitik.
0.75% – das war im September die magische Zahl. Sowohl die Fed als auch die EZB und die SNB haben sich zu diesem Zinsschritt durchgerungen. Wir begrüssen die Zinsschritte. Zwar schmerzen höhere Zinsen kurzfristig, Inflation aber ist ein langfristiges Problem, wenn sie sich erst mal im Wirtschaftssystem ausgebreitet hat. Die Inflation «frisst» sich aktuell durch den gesamten Produktionsprozess. Darum werden auch Preise in Segmenten erhöht, wo die höheren Kosten noch gar nicht ins Gewicht fallen, zum Beispiel bei den Dienstleistungen. Dass höhere Preise durchs System wandern, wollen die Notenbanken richtigerweise verhindern. Aber sie haben keinen Knopf, um diesen Prozess schnell zu stoppen. Ihnen bleiben die Zinserhöhungen, um ihm entgegenzuwirken, wobei sie hier geduldig sein müssen. Wir erwarten, dass die drei Notenbanken auch weiterhin kräftig an der Zinsschraube drehen werden. Für die Aktienmärkte wird dies ein Belastungsfaktor bleiben. Sobald aber die Inflationsspitzen gebrochen sind und die Zinserwartungen klarer formuliert werden, können auch im Umfeld steigender Zinsen Aktienmärkte wieder eine positive Entwicklung zeigen.
Konjunkturelle Abkühlung
Wir rechnen damit, dass sich zum Jahresende eine konjunkturelle Abkühlung zeigen wird. In Europa früher und stärker als in der Schweiz oder den USA. In den USA wird sich die Wirtschaft vor allem zyklisch und wegen der gestiegenen Zinsen eintrüben. Die USA haben kein Energieproblem. Eher negativ sind wir für China gestimmt. Dort hat sich die Konjunktur bereits spürbar abgekühlt und aufgrund der Probleme im Immobiliensektor und damit am Kreditmarkt wird sich eine Erholung nicht so schnell den Weg bahnen.
Die Gefahr einer Energiemangellage schwebt wie ein Damoklesschwert über der Konjunktur und bleibt auch weiterhin ein Risiko für die Entwicklung an den Aktienmärkten. Wenn Energie fehlen sollte, wird der wirtschaftliche Winter garstig. In der Schweiz setzt die erste, aktuell aktive Eskalationsstufe auf Sparappelle. Erst die dritte Eskalationsstufe sieht eine Kontingentierung vor, welche die Wirtschaft selbstredend vermeiden möchte. Sie wäre mit erheblichen Kosten, Ertragsausfällen und organisatorischem Aufwand verbunden. Dies hätte natürlich auch negative Folgen für die Aktien- und Finanzmärkte, weil die Gewinne sinken würden. Wichtig ist vorerst der 1. November. An diesem Tag werden Zahlen zum deutschen Gasvorrat publiziert, die etwas Licht ins Dunkel bringen sollten. Bei einer Reservehaltung von 95% sollte das Schlimmste vermieden werden können. Aktuell liegt die Vorratshaltung bei rund 85%.
Geringe Visibilität
Die aktuelle Lage lädt noch nicht dazu ein, auf breiter Basis wieder in Aktien zu investieren. Dafür fehlt nach wie vor leider die Visibilität. Gerade bei Titeln, die wieder mit einer günstigen Bewertung auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, ist angesichts der Risiken noch etwas Zurückhaltung geboten. Oft sind diese Titel sehr zinssensitiv oder leiden stärker unter einer konjunkturellen Abkühlung. Aber bei sogenannten Qualitätstiteln oder auch Dividendenwerten lohnt sich ein gezielter zweiter Blick. (SGKB/mc/ps)