St. Gallen – Die Europäische Zentralbank hat ihre neue geldpolitische Strategie vorgestellt, welche Christine Lagarde gleich zu Beginn ihrer Amtszeit als EZBPräsidentin in Auftrag gegeben hatte. Neu wird eine mittelfristige Inflationsrate von 2% angestrebt, wobei vorübergehende Unter- und Überschreitungen möglich sind. Bisher galt als Ziel eine Inflationsrate nahe aber unter 2%. Auf den ersten Blick erscheint die geldpolitische Strategie klar und verständlich zu sein. Je mehr man jedoch die Umsetzungserläuterungen der EZB durchliest, desto verwirrter wird man. Zwar wird der Harmonisierte Verbraucherpreisindex, die heutige Inflationsrate, als geeignete Messgrösse bestätigt. Danach wird aber umfangreich erläutert, dass die EZB sich bei ihren Entscheiden mehr auf die eigenen Prognosen und auf sonstige Einflüsse abstützen will als auf die Inflationsentwicklung. Zudem soll mit der Geldpolitik auch Klimapolitik betrieben werden.
Die frühere Stabilitätspolitik der Deutschen Bundesbank ist in der neuen Strategie nicht mehr zu finden. Vielmehr widerspiegelt sie das französische Verständnis, dass der Staat, oder hier die Zentralbank, alles steuern kann und soll. Was sich bereits bei der geänderten Verteilung der Anleihenskäufe der EZB mit einem Schwergewicht auf die schwächeren Südländer angekündigt hat, wird nun auf die Geldpolitik als Ganzes ausgeweitet. Es ist daher zu erwarten, dass die EZB ihre zukünftige Geldpolitik stärker an den Bedürfnissen der schwächeren Länder ausrichtet als an der von den stärkeren Euroländern gewünschten Stabilität. Die Wahrscheinlichkeit ist damit hoch, dass die EZB ihre Zinsen länger tief halten wird als dies nötig und angebracht wäre.
Wechselkurs im Zentrum – im Moment
Eigentlich könnte es uns egal sein, wenn die EZB ihre Stabilitätspolitik aufgibt, wenn da nicht der Wechselkurs des Euro zum Franken wäre. Wenn die EZB die Zinsen nicht anheben wird, obschon das angesichts eines stabilen Wachstums der Wirtschaft in der Eurozone nötig wäre und eine zu hohe Inflation im Euroraum zulässt, sinkt der Kurs des Euro zum Franken. Dadurch wird es für die SNB aus Furcht vor einer Aufwertung des Frankens schwieriger, sich von den Negativzinsen zu verabschieden, obschon die Zinsen in der Schweiz gemessen an der konjunkturellen Lage zu tief sind. Die Auswirkungen und Verzerrungen der zu tiefen Zinsen auf den Immobilienmarkt, auf unser Vorsorgesystem und auf die Struktur der Wirtschaft werden dann noch ausgeprägter.
Befreiung von den Zwängen der EZB
Die Fed wird ab 2023 beginnen, die Zinsen in den USA sukzessive anzuheben, wenn es das wirtschaftliche Umfeld erfordert. Dann werden auch in Europa höhere Zinsen ein Thema werden. Falls die EZB lange zuwartet, wird sich die SNB entscheiden müssen. Will sie die Gelegenheit nutzen und das Zinsniveau in der Schweiz normalisieren oder stellt sie den Franken weiterhin ins Zentrum ihrer Geldpolitik und will deshalb die negative Zinsdifferenz zum Euroraum nicht aufgeben? Dieser Entscheid wird nicht einfach sein. Irgendwann wird sich die SNB aber aus der Abhängigkeit von der Geldpolitik der EZB befreien müssen. Falls es notwendig ist, wird sie den Leitzins in der Schweiz eigenständig erhöhen müssen, auch wenn die EZB sich diesbezüglich nicht bewegt. Dass der Franken gegenüber dem Euro bei einem solchen Schritt teurer wird, muss sie in Kauf nehmen. Die Erfahrungen zeigen, dass am Devisenmarkt die Reaktion auf Entscheide der Zentralbanken rasch verpufft und die Aufwertung des Frankens von kurzfristiger Natur sein wird.
Den Franken kauft man nicht, weil die Zinserträge so hoch sind, sondern als Hort der Sicherheit in unsicheren Zeiten. Bei den langen Zinsen ist die negative Zinsdifferenz zwischen der Schweiz und Deutschland, beides Schuldner mit einer vergleichbaren Bonität, schon seit mehr als einem Jahr verschwunden, ohne dass der Franken zum Euro teurer wurde. (SGKB/mc/ps)