SGKB investment views: Energiekrise – was ist das?
Von Thomas Stucki, CIO der St.Galler Kantonalbank
St. Gallen – Vor einem Jahr war das Schlagwort «Energiekrise» in aller Munde. Die Warnungen vor einem schwarzen Winter überschlugen sich, genauso wie die Vorschläge und Forderungen, wie man Strom sparen sollte. Netflix schauen war genauso verpönt wie die Weihnachtsbeleuchtung oder eine warme Dusche. Ein Jahr später ist eine mögliche Energiemangellage über den Winter kein Thema mehr. Die Gasspeicher sind voll, die Stauseen ebenfalls. Von den Kernkraftwerken in Frankreich hört man nichts, also scheinen sie zu laufen. Wahrscheinlich war man vor einem Jahr zu hektisch, genauso wahrscheinlich ist man in diesem Jahr zu sorglos.
Der Unterschied zeigt sich auch in den Preisen für Gas und Strom. Der Gaspreis ist 70% tiefer als vor einem Jahr. Die Schwankungen im Gaspreis sind im Vergleich zum letzten Jahr nicht mehr die Rede wert. Gegenüber der Zeit vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist der Preis für Erdgas aber immer noch etwa doppelt so hoch. Das gleiche gilt für den Strompreis. Strom für die Lieferung in einem Monat ist 75% billiger als vor einem Jahr. Das gleiche gilt für längerfristige Stromverträge, die für die Versorgung der Privathaushalte und Unternehmen wichtiger sind als der aktuelle Tagespreis. Strom für 2024 war vor einem Jahr dreimal so teuer wie heute.
Stabilisierung bei den Strompreisen
Das hilft den Stromkonsumenten aber wenig, da der Strom für das nächsten Jahr von den Stromanbietern schon zu den höheren Preisen eingekauft wurde, was sich in den Stromrechnungen zeigen wird. Der Strom für 2025 kann dagegen günstiger eingekauft werden. Generell hat sich der Preis für die verschiedenen Lieferperioden bei rund 100 Euro pro MWh eingependelt. Damit ist auch der Strompreis etwa doppelt so hoch wie vor dem Krieg. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch gross, dass es bei den Stromkosten im übernächsten Jahr für viele Bezüger im Vergleich zu 2024 eine Entspannung gibt.
Das mag nach einer Zahlenspielerei aussehen, ist aber für die Entwicklung der Konjunktur und der Finanzmärkte ein wichtiges Puzzleteil. Der Energieverbrauch ist für viele Unternehmen, insbesondere in der Industrie, ein wesentlicher Kostenfaktor. Tiefere Energiepreise entlasten die Produktionskosten und stabilere Preisverhältnisse verbessern die Planbarkeit. Investitionen werden wieder attraktiver, was die Konjunktur stimuliert.
Stütze für die Konjunktur
Das gilt insbesondere für die stark energieabhängige Wirtschaft in Deutschland, wovon die Schweiz über die Exporte auch profitiert. Gas- und Strompreise sind auch ein wichtiger Faktor für die Inflation, einerseits direkt über den Bezug der Energie, andererseits indirekt über die Zweitrundeneffekte der höheren Kosten. Nimmt der Inflationsdruck ab, erhöht das den Spielraum der Zentralbanken, mit einer expansiveren Geldpolitik die Konjunktur zu unterstützen. Das wiederum erhöht die Erwartungen der Investoren für höhere Gewinne der Unternehmen und lässt sie am Aktienmarkt zugreifen.
Eine stabile Energieversorgung zu stabilen Preisen ist für die Wirtschaft und die Finanzmärkte ein wichtiger Grundpfeiler. Das geht oft vergessen. Deshalb war die Diskussion um eine Energiekrise im letzten Jahr gar nicht so schlecht.