Streitkräfte als strategische Reserve in Zeiten eines sicherheitspolitischen Gezeitenwechsels
Häufig wird die Schweizer Armee als einzige strategische Reserve des Landes bezeichnet. Wie rasch Katastrophen auch entwickelte Länder zur Mobilisierung ihrer letzten Reserven zwingen können, lässt sich diesen Juli an zwei ganz verschiedenen Orten der Welt beobachten. Südafrika erlebt seit vielen Tagen derart massive Unruhen und Plünderungen, dass es zur Unterstützung der Polizei praktisch sein gesamtes Heer (30’000 von 40’000 aktiven Soldaten) mobilisieren musste. Kein attraktiver Einsatz für eine Armee, aber leider notwendig. Zeitgleich wurde in einer ganz anderen Ecke der Welt eine Armee zur Hilfe im Innern beigezogen. Über die Menschen in Westdeutschland brachen diesen Juli viel Unheil herein. Starke Fluten rissen Menschen in den Tod und haben Schneisen der Verwüstungen hinterlassen.
Von Dr. Fritz Kälin
Die Gelegenheit schafft auch im reichen Deutschland Diebe, bzw. Plünderer. Wie setzte der deutsche Staat seine Streitkräfte in dieser Notlage ein? Er bot 900 Bundeswehrsoldaten auf, die im Katastrophengebiet mit schwerem Gerät bei den Räumungen halfen. Geniepanzer brachten Hilfe, wo kein ziviles Fahrzeug hingelangen konnte. Der Lokalpresse entnahm ich aber auch einen kleinen Einsatz der Truppe, der nicht zum Ernst der Lage zu passen scheint.
…und Erstrettungskräfte für verirrte Fische?
In Leverkusen halfen Bundeswehrsoldaten, in eine Tiefgarage gespülte Karpfen einzufangen und in den Fluss Dhünn zurückzubefördern. Und das «mit Begeisterung», wie eine Einwohnerin dem «Leverkusener Anzeiger» berichtet: «Jeder eingefangene und in die Dhünn zurückgebrachte Fisch wurde bejubelt.» In einem Gebiet, wo noch immer Menschen in den Fluten vermisst werden, muss jemand auf die Idee gekommen sein, die personelle Verstärkung durch die Armee zur Rettung von Fischen einzusetzen. Neben den Fischen erwähnt der Artikel auch «Plünderer am Straßenrand». Wie begeistert die Bundeswehrangehörigen die Zivilbevölkerung vor Plünderern schützen würden, können wir nicht wissen. Denn der Einsatz von Soldaten für die Sicherheit im eigenen Land ist in Deutschland aus historischen Gründen noch immer zu heikel. Pech für die vom Unwetter hart getroffene Bevölkerung. Denn trotz Hundertschaften von Polizeikräften können Plünderer über das den Flutopfern noch verbliebene Hab und Gut herfallen. Die für die Sicherheit der Bevölkerung verantwortlichen Politikerinnen und Politikern können froh sein, dass die kritischen Fragen der Medien sich auf mögliche klimatische Ursachen dieses Unwetters fokussieren.
In Afghanistan endet das Zeitalter der expansiven westlichen Sicherheitspolitik
Der überschaubare Bundeswehreinsatz an der gefluteten Heimatfront lenkt vom Ende ihres grössten Einsatzes ab. In Afghanistan war die Bundeswehr während 20 Jahren nicht am Fische retten. Dort durfte bzw. sollte sie tatsächlich für «Sicherheit» sorgen. Und nicht nur das. Der Einsatz fernab des NATO-Bündnisgebiets galt auch als Erfüllung der «Bündnisverpflichtungen», während daheim die Fähigkeiten für die Verteidigung des europäischen Bündnisraums verkümmerten. Diese «Verteidigung Deutschlands am Hindukusch» sollte darüber hinaus auch «Fluchtursachen bekämpfen», doch die Afghanen flohen trotzdem zu Tausenden nach Deutschland. Und von all diesen gut klingenden Aufträgen wurde die Bundeswehr während der vergangenen Monate so rasch entbunden, wie sie ihr nach 2001 aufgebürdet wurden. Kein Minister, geschweige denn die Kanzlerin nahm die letzten aus Afghanistan heimgekehrten Soldatinnen und Soldaten in Empfang. Die sicher noch stärker steigende Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan wird die Deutschen aber noch lange daran erinnern, dass sie militärisch 20 Jahre lang lieber für andere Länder als für sich selbst Verantwortung übernahmen.
Wo müssen die Schutzdämme gegen die Gefahren des sicherheitspolitischen Gezeitenwechsels errichtet werden?
«Sicherheit» wurde im vermeintlich befriedeten Europa nach dem Mauerfall von einer staatlichen Hauptaufgabe für das eigene Land zu einem Exportgut umgedeutet. Um die europäische Friedensinsel sollten gleichsam Dämme gegen Gefahren von aussen errichtet werden. Doch der teuerste Damm in Afghanistan wird gerade weggespült. Der Westen wird zunehmend auf eigenem Boden herausgefordert werden. Dieser sicherheitspolitische Gezeitenwechsel verlangt nach Streitkräften, mit denen der Staat zuallererst wieder seine eigene Bevölkerung zu schützen vermag. So wie die Schweizer Armee 1993, als sie nach dem Unwetter in Brig nicht nur mit Räummaterial aufmarschierte, sondern das Katastrophengebiet selbstverständlich auch gegen Plünderer abschirmte. Das wäre auch im leider immer wahrscheinlicheren Fall eines anhaltenden, weiträumigen Stromausfalls zwingend notwendig. Seit 1993 ist der Sollbestand der Armee aber von über 600’000 auf noch 100’000 Helme geschrumpft, und sogar dessen Alimentierung ist nicht gesichert. Wenn die Politik nicht endlich Gegensteuer gibt, werden eines Tages nicht nur Fische in der Schweiz vergeblich auf Hilfe von der strategischen Reserve des Staates warten.
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One thought on “Streitkräfte als strategische Reserve in Zeiten eines sicherheitspolitischen Gezeitenwechsels”
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«Seit 1993 ist der Sollbestand der Armee aber von über 600’000 auf noch 100’000 Helme geschrumpft, und sogar dessen Alimentierung ist nicht gesichert. »
Leider entspricht diese Aussage der Wahrheit. Es ist traurig zu erkennen, wie leichtfertig ein grosser Anteil der Schweizer Bevölkerung schon bereit ist, unsere nationale Souveränität und Integrität zugunsten eines sehr kurzsichtigen, «progressiven» Zeitgeistes zu opfern. Sollte sich ein Aggressor unser Land jemals krallen wollen, war’s das endgültig mit der Freiheit und unserer direkten Demokratie. Und das setzen wir achselzuckend wegen einiger Milliarden, die wir uns locker leisten können, auf’s Spiel. Der geneigte Konservative ist fasungslos ob dieser Art der Ablehnung von historischer Verantwortung.