Teilentwarnung für Himalaya-Gletscher
Der grosse Gletschersee Imja Thso im Imja-Tal südlich des Mt. Everest/Nepal bildete sich in den 1960-er Jahren und ist seither kontinuierlich gewachsen. 3D-Ansicht generiert aus einem ASTER-Satellitenbild. (Bild: T. Bolch, Universität Zürich/TU Dresden)
Zürich – Mehrere hundert Millionen Menschen in Südasien sind in unterschiedlichem Ausmass von den Süsswasserspeichern der Himalaya-Gletscher abhängig. Entsprechend wichtig ist es, mögliche Auswirkungen von Klimaänderungen auf die Himalaya-Gletscher frühzeitig zu erkennen. Jetzt zeigen Glaziologen der Universität Zürich zusammen mit internationalen Forschern, dass die Gletscher im Himalaya weniger schnell abnehmen, als bisher angenommen. Ein grosses Gefahrenpotenzial orten die Wissenschaftler dagegen bei Ausbrüchen von Gletscherseen.
Seit den Fehlprognosen des Weltklimarates IPCC stehen die Himalaya-Gletscher im Fokus von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Die lückenhaften Kenntnisse über die Gletscher der Himalaya-Region verhinderten bisher genaue Aussagen und Prognosen. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Glaziologen der Universität Zürich und Beteiligung von Genfer Wissenschaftlern fasst nun in einer Studie in «Science» den aktuellen Wissensstand über die Gletscher im Himalaya zusammen. Die Wissenschaftler bestätigen, dass die im letzten IPCC-Bericht veröffentlichten Schwundszenarien für die Himalaya-Gletscher übertrieben waren.
20 Prozent weniger Gletscherfläche als angenommen
Die bisher aktuellsten Kartierungen auf Basis von Satellitendaten ergaben, dass Gletscher im Himalaya und Karakorum eine Gesamtfläche ca. 40’800 km² bedecken. Diese Fläche entspricht rund dem Zwanzigfachen aller Alpengletscher, ist aber bis zu zwanzig Prozent kleiner als bisher angenommen wurde. Der leitende Wissenschaftler Tobias Bolch, der an der Universität Zürich und der Technischen Universität Dresden forscht, führt dies zur Hauptsache auf fehlerhafte Kartierungen in früheren Untersuchungen zurück.
Geringere Abnahme als prognostiziert
Für ihre Studie berücksichtigten die Wissenschaftler alle bisher vorliegenden Messungen von Längen-, Flächen- und Volumenveränderungen bzw. Massenbilanzen. Während die Messreihen zu Längenänderungen teilweise bis ins Jahr 1840 zurückgehen, sind Messungen zu Gletschermassenbilanzen, die das Klimasignal unverzögert wiederspiegeln, sehr rar. – Und kontinuierliche Messreihen reichen nicht weiter als 10 Jahre zurück. Die Forscher ermittelten durchschnittliche Längenabnahmen in den letzten Jahrzehnten von fünfzehn bis zwanzig Metern und Flächenabnahmen von 0,1 bis 0,6 Prozent pro Jahr. Weiterhin sanken die Gletscheroberflächen um rund 40 cm pro Jahr ein.
«Die festgestellten Längenänderungen sowie Flächen- und Volumenabnahmen entsprechen dem globalen Mittel», fasst Bolch die neuen Resultate zusammen und ergänzt: «Die Mehrheit der Himalaya-Gletscher nimmt ab, aber deutlich weniger schnell als bisher prognostiziert.»
Für die Gebiete im Nordwesten des Himalayas und insbesondere im Karakorum-Gebirge konnten die Forscher ein sehr heterogenes Verhalten der Gletscher feststellen. Viele dieser Gletscher sind dynamisch instabil und neigen zu raschen Vorstössen, die weitgehend unabhängig von den Klimabedingungen vorkommen. Für die vergangenen zehn Jahre wurde im Schnitt sogar eine leichte Volumenzunahme festgestellt. Aufgrund ihrer Analysen gehen die Forscher davon aus, dass sich der Gletscherschwund in den kommenden Jahrzehnten nicht wesentlich auf den Wasserabfluss der grossen Ströme wie Indus, Ganges und Brahmaputra auswirken wird.
Grössere Variabilität und drohende Ausbrüche von Gletscherseen
Trotz der teilweisen Entwarnung für die Himalaya-Gletscher mahnt Bolch aber zur Vorsicht: «Aufgrund des zu erwartenden Gletscherschwundes rechnen wir mittelfristig mit einer grösseren Variabilität bei den saisonalen Wasserabflüssen. Einzelne Täler könnten saisonal trocken fallen.»
Eine für die lokale Bevölkerung sehr ernstzunehmende Bedrohung sehen Bolch und seine Kollegen bei neu entstehenden bzw. sich rasch vergrössernden Gletscherseen. Die Wasser- und Geröllflut von ausgebrochenen Gletscherseen könnte für tiefer liegende Gebiete verheerende Folgen haben. Zur Überwachung dieser Gletscherseen, aber auch der Veränderungen der Gletscher und des Klimas im Himalaya sind gemäss den Wissenschaftlern dringend verstärkte Anstrengungen notwendig.
Die Arbeit entstand im Rahmen des EU-Projektes «High Noon» und des European Space Agency-Projektes «Glaciers_cci». (Universität Zürich/mc/pg)