Zürich – Bei der Analyse von Daten des XENON1T-Detektors für Dunkle Materie wurde ein Signalüberschuss festgestellt. Woher dieses unerwartete Signal stammt, ist noch nicht vollständig geklärt. Der Ursprung könnte laut UZH-Forschenden relativ banal sein oder aber auf die Existenz neuer Teilchen oder bisher unbekannte Eigenschaften von Neutrinos hindeuten.
Der Detektor XENON1T war bis Ende 2018 im Gran-Sasso-Untergrundlabor des Nationalen Instituts für Kernphysik in Italien auf der Suche nach Teilchen der Dunklen Materie, die 85 Prozent der Materie im Universum ausmacht. Gefunden hat der weltweit empfindlichste Detektor noch keine Teilchen von Dunkler Materie, dafür aber seltene Ereignisse. Fliegt ein Teilchen durch das verflüssigte Xenon, kann es mit den Xenon-Atomen zusammenstossen, dabei schwache Lichtsignale auslösen und Elektronen aus dem getroffenen Xenon-Atom schlagen. Beim Abgleich der XENON1T-Daten mit den erwarteten 232 Ereignisse bekannter Teilchen fanden die Forscherinnen jedoch einen überraschenden Überschuss von 53 Ereignissen.
Den Ursprung dieser unerwarteten Signale haben die Mitglieder der XENON-Kollaboration, in der 163 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 28 Institutionen in 11 Ländern zusammenarbeiten, noch nicht geklärt. «Die neuen Ergebnisse unseres Xenon-Detektors sind sehr aufregend», sagt Laura Baudis, Physik-Professorin an der Universität Zürich und führend am Projekt beteiligt. «Wir behaupten nicht, Dunkle Materie gefunden zu haben – aber wir können uns den unerwarteten Signalüberschuss noch nicht vollständig erklären.»
Ursprung der Signale noch ungeklärt
Momentan stehen mehrere Vermutungen im Raum: Eine Möglichkeit könnte die Anwesenheit extrem kleiner Mengen an Tritium im flüssigen Xenon sein. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop, zerfällt spontan unter Aussendung eines Antineutrinos sowie eines Elektrons. Bereits winzige Mengen Tritium im Detektor könnten das Signal erklären. Allerdings gibt es derzeit keine unabhängigen Messungen, welche die Anwesenheit von Tritium bestätigen oder ausschliessen könnten. Eine weitaus spannendere Erklärung wäre die Existenz eines neuen Teilchens. Das gemessene Energiespektrum gleicht demjenigen, das für in der Sonne erzeugte Axionen erwartet wird. Axionen sind hypothetische Teilchen, die einer in der Natur beobachtete Symmetrie der Kernkräfte entsprechen. Ein solcher Nachweis wäre die erste Beobachtung einer neuen Klasse von Teilchen. «Dies hätte grosse Bedeutung für unser Verständnis von fundamentaler Physik, aber auch von astrophysikalischen Phänomenen. Im frühen Universum erzeugte Axionen könnten zudem eine Quelle für Dunkle Materie sein», erklärt Baudis.
Alternativ könnten auch überraschende Eigenschaften von Neutrinos hinter dem unerwarteten Signal stecken. In jeder Sekunde durchqueren Billionen von Neutrinos völlig ungehindert den Detektor. Als Erklärung käme in Frage, dass das magnetische Moment der Neutrinos grösser ist als vom Standardmodell der Elementarteilchenphysik vorhergesagt. Dies wäre ein klarer Hinweis auf neue Wechselwirkungen jenseits des Standardmodells.
Höchstempfindlicher Detektor wird gebaut
«Obwohl der jetzige Detektor hauptsächlich zur Suche nach Dunkler Materie entwickelt wurde, konnten wir nach sehr seltenen Wechselwirkungen und Teilchen jenseits des Standardmodells suchen», erklärt Dr. Michelle Galloway, die zusammen mit den Doktoranden Evan Shockley (University of Chicago) und Jingqiang Ye (University of California San Diego) die Datenanalyse geleitet hat. Noch präzisere Daten erwartet die UZH-Physikerin allerdings vom verbesserten, noch empfindlicheren Detektor XENONnT, der derzeit aufgebaut wird und gegen Ende des Jahres mit der Datenaufnahme beginnen soll.
Das Team um die UZH-Professorin Laura Baudis trägt wesentlich an der Entwicklung und dem Bau der Zeit-Projektionskammer, an der Installation, der Ausleseelektronik und der Eichung der 494 Photodetektoren sowie an Messungen von Spuren von Radioaktivität in den Detektormaterialien bei. «Wir hoffen, dass das Rätsel mit Hilfe des XENONnT-Detektors bald gelöst sein wird», sagt Michelle Galloway. «Vielleicht stammt der Überschuss tatsächlich vom Zerfall weniger Tritium-Atome im Xenon. Doch von den exotischeren Erklärungen wären wir natürlich noch viel mehr begeistert.» (UZH/mc/pg)
Das XENON1T-Experiment
Mit dem Detektor XENON1T wollten Physiker erstmals Teilchen der Dunklen Materie nachweisen. Theoretischen Annahmen zufolge stossen diese in dem mit flüssigem Xenon gefüllten Tank sehr selten mit einem Xenon-Atomkern zusammen. Durch die dabei übertragene Energie werden andere Xenon-Atome anregt und zum Leuchten gebracht. Diese sehr schwachen Signale aus ultraviolettem Licht sowie bei der Kollision ebenfalls frei werdende winzige Mengen an elektrischer Ladung werden von empfindlichen Sensoren nachgewiesen. Seit 2018 befindet sich der Detektor im Umbau: Die dreifache Masse an Xenon sowie weitere Anpassungen sollen den neuen XENONnT-Detektor nochmals um eine Grössenordnung empfindlicher machen. Der Detektor XENON1T ist ein internationales Projekt, an dem rund 160 Forschende beteiligt sind. In der Schweiz erhielt das Experiment finanzielle Unterstützung durch den SNF und die Universität Zürich. Internationale Förderung kam aus Deutschland, den USA, Italien, Israel, Portugal, Frankreich, Schweden, den Niederlanden und von der EU.