Ukrainekrieg: Keine «Klasse» ohne «Masse»

Dr. Fritz Kälin

Im grössten Krieg in Europa seit 1945 fokussiert die westliche Berichterstattung auf einzelne Waffensysteme und vernachlässigt den Faktor «Quantität». Die grösste militärische Invasion seit 2003 scheiterte in den ersten Wochen und Monaten an dem, was im Westen viele Experten (und notorische Militärhasser) gerne als «Massenheer» schmähen. Inzwischen musste auch Russlands Präsident Putin eingestehen, dass er diesen Krieg ohne mehr «boots on the ground» bald verlieren würde.

Von Dr. Fritz Kälin

Eine Neujahrsnacht in Grosny

Ну что же ты, царица войск – пехота (Was bist du, die Königin der Armee, die Infanterie?)

Mit dieser Textzeile fasste der tschetschenische Barde Timur Muzuraev in einem Lied das Debakel der russischen Armee zusammen, als ihre langen Panzerkolonnen an Sylvester 1994 in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny aus allen Fenstern und Seitengassen zusammengeschossen wurden. In einem weiteren Lied besang Muzuraev das russische Trauma jener Nacht: Ох, эта ночка! Ох, этот Новый год! Вам никогда его не позабыть! (Oh, diese Nacht! Oh, dieses neue Jahr! Sie werden es nie vergessen!) Offenbar hatte die russische Staatsführung 2022 doch vergessen, was passiert, wenn Panzer ohne genügende Infanterieunterstützung in eine feindlich gesinnte Grossstadt vorstossen. Putins Eliteverbände bluteten bereits entlang der Anmarschwege nach Kyiv aus.

Februar bis August 2022: Russland unterschätzt die quantitative Stärke der Ukrainer

Weil seit Monaten die Erfolge der Ukrainer gerne auf einzelne westliche Waffensysteme (oft nur in zweistelliger Zeit geliefert) reduziert werden, sei hier eine Lanze für die hunderttausenden ukrainischen Soldaten gebrochen. Ohne sie gäbe es bereits keine freie Ukraine mehr, der westliche ‘Wunderwaffen’ geliefert werden könnten. Die Moral einer Armee speist sich auch aus ihrer quantitativen Stärke gegenüber dem Gegner. Überhaupt ist zum ersten Mal seit langem eine vom Westen unterstützte Armee nicht beim ersten feindlichen Grossansturm in sich zusammengebrochen. Die nach US-Vorbild konzipierten regulären Armeen Südvietnams (1956–1975), des Iraks (beim Angriff des IS 2014) und Afghanistans (2021) machten trotz westlicher Waffen meist keinen besseren Eindruck als derzeit die russische Armee.

In den ersten Kriegswochen machten die leichten Infanteristen der ukrainischen Territorialbrigaden den Nachschubkolonnen der russischen Angriffsspitzen das Leben zur Hölle. Westliche Panzerabwehrlenkwaffen leisteten ihnen dabei gute Dienste – aber ohne diese zahlreichen Territorialinfanteristen hätte es schlicht an Schützen für die «Javelin», «NLAW» etc. gefehlt.

In der nächsten Kriegsphase mussten dieselben Territorialinfanteristen im Donbass die ukrainische Abwehrfront stützen helfen, oft ohne die dafür nötige Unterstützung schwerer Waffen. Ihre dabei erbrachten grossen Opfer waren aber nicht umsonst. Die so gehaltene Front erlaubte es den Ukrainern, ihre Reservisten für die kampfstarken Reservebrigaden in Ruhe zu trainieren und auszurüsten. Seit Frühsommer verstärken sie die Abwehrfront wirksam. Kampferfahrene Brigaden konnten dafür aus der Front herausgelöst und für Gegenoffensiven zusammengezogen werden. Weiterhin fokussiert die Berichterstattung auf die Wirkung westlicher Waffensysteme…

Russland verschliss derweil seine verbliebenen Angriffskräfte im Donbass in verzettelten Angriffen. Als sich im Spätsommer eine ukrainische Offensive auf den russischen Brückenkopf bei Kherson abzeichnete, konnte der Kreml seine dortige Abwehrfront nur verstärken, in dem er Truppen aus dem Raum Kharkiv an die weit entfernte Südwestfront abzog. Die Verteidigung der Nordost-Front, welche die vitale russischen Nachschublinien in den Donbass deckte, wurde schwachen paramilitärischen Einheiten aufgebürdet. Anders als die ukrainischen Territorialtruppen waren diese nicht motiviert, ihre Stellungen unter grossen Verlusten gegen einen überlegenen Angreifer zu verteidigen. Und anders als die Ukraine hatte Russland bis dahin keine regulären Reserven mobilisiert, sondern würfelte aus dem ganzen Land Freiwillige zu ad hoc Verbänden zusammen. Diese erwiesen sich den Ukrainern in den ersten Kampfbegegnungen bereits als nicht gewachsen.

September: Russland versucht mit einer Teilmobilmachung quantitativ aufzuholen

Inzwischen musste sich die russische Führung eingestehen, dass ihre «Spezialoperation» ohne deutlich mehr «Manpower» nicht einmal mehr die seit 2014/2022 geraubten Gebiete wird behaupten können. Am 21. September wurde eine Teilmobilmachung von 300’000 Reservisten mit mehr als nur der minimalen Wehrdienst-Militärerfahrung angeordnet. Laut Russlands Verteidigungsminister Shoigu sollen diese Kräfte die Kontrolle über die eroberten Gebiete «konsolidieren» helfen.

Dadurch, dass der Kreml seinen Angriffskrieg als «militärische Spezialoperation» deklariert, ist es ihm gesetzlich nicht erlaubt, dafür Wehrpflichtige und Reservisten einzusetzen. Die Invasion musste mit Vertragssoldaten und Söldnern versucht werden. Deren inzwischen hoffnungslose nummerische Unterlegenheit gegenüber den ukrainischen Landesverteidigern konnte seit den ukrainischen Gegenoffensiven sogar in Putins Wahrnehmungsblase nicht länger ignoriert werden.

Indem die bereits/noch besetzten Gebiete durch Scheinreferenden zu russischem Staatsgebiet umdefiniert werden, kann Moskau das Kriegsfegefeuer neu auch mit der Masse seiner Wehrdienstleistenden und Reservisten füttern. Bis zum Eintreffen dieser russischen Reserven werden die Ukrainer das für sie derzeit günstige Kräfteverhältnis hoffentlich maximal ausnützen.

Die wirksamste Waffe eines jeden Krieges

Abschliessend sei es nochmal betont: Die Wirksamkeit westlicher Waffen mag das schlechte Gewissen derjenigen beruhigen, die sich ihrer Lieferung so lange widersetzt haben. Es belegt aber vor allem, dass frühzeitigere Waffenlieferungen die russische Invasion schon viel früher an ihren Kulminationspunkt geführt hätten. Gegen eine potenzielle Verdoppelung oder Verdreifachung der russischen Truppen in der Ukraine ist auch die vollständig mobilisierte ukrainische Armee auf mehr schwere Waffen angewiesen. Aber nicht die geographische Herkunft der Waffen, sondern die Opferbereitschaft der sie einsetzenden Soldaten bildet das Erfolgsgeheimnis des ukrainischen Abwehrkampfes. Opferbereitschaft, das lässt sich (zum Glück) nicht auf dem internationalen Rüstungsmarkt einkaufen.


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