USA skizzieren Schutzszenario für Ukraine – Die Nacht im Überblick
Washington – Der Schutz der Ukraine soll nach Vorstellung der US-Regierung langfristig durch Sicherheitszusagen einzelner Länder gewährleistet werden. So seien die USA etwa bereit, der Ukraine verschiedene Formen der militärischen Unterstützung bereitzustellen, Geheimdienstinformationen mit ihr zu teilen und Cyberunterstützung zu leisten, damit sie sich selbst verteidigen und zukünftige Aggressionen abwehren könne, sagte der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Sonntag (Ortszeit).
Die US-Regierung hatte wenige Tage vor dem Nato-Gipfel an diesem Dienstag und Mittwoch klargestellt, dass die Ukraine aus ihrer Sicht nicht kurzfristig in das Militärbündnis aufgenommen werden kann. Die Ukraine fordert das oder zumindest eine Abkürzung des Aufnahmeverfahrens. In den USA war am Wochenende dagegen von umfassenden Sicherheitsgarantien die Rede – nach Kriegsende und vor einem möglichen Nato-Beitritt.
Bei dem Gipfel in Vilnius geht es darum, wie die Ukraine an das Bündnis herangeführt werden kann und welche Sicherheitsgarantien ihr nach einem Ende des russischen Angriffskriegs gegeben werden können. Biden und etliche andere Nato-Partner halten die Ukraine noch nicht für einen Beitritt bereit – auch wegen des andauernden Krieges.
Die USA seien bereit, der Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskrieges einen ähnlichen Schutz zu bieten wie Israel, hatte Biden in einem am Sonntag veröffentlichten CNN-Interview gesagt. Sullivan erläuterte an Bord der Präsidentenmaschine auf dem Weg nach London dazu: «Das Konzept sieht vor, dass die Vereinigten Staaten zusammen mit anderen Verbündeten und Partnern innerhalb eines multilateralen Rahmens bilaterale Sicherheitsverpflichtungen mit der Ukraine auf lange Sicht aushandeln.»
Biden werde sich in Vilnius dazu äussern und mit den Partnern sowie mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj darüber beraten, sagte Sullivan. Selenskyj hatte zuvor seine Anwesenheit beim Nato-Gipfel an die Bedingung geknüpft, dass die Ukraine dort ein Signal für ihre Zukunft in dem Militärbündnis erhalte.
Selenskyj will stärkeren Schutz an Grenze zu Belarus
Selenskyj dankte in seiner täglichen Videobotschaft am Sonntag einmal mehr den Soldaten für die Erfolge auf dem Schlachtfeld. Die Ukraine macht bei ihrer Gegenoffensive zur Befreiung ihrer Gebiete von der russischen Besatzung nach Militärangaben aus Kiew Fortschritte – besonders auch in der östlichen Region Bachmut im Gebiet Donezk.
Bei einem Besuch in der Stadt Luzk im Nordwesten der Ukraine in der Nähe von Belarus sprach sich Selenskyj erneut für einen besseren Schutz der Staatsgrenze aus. Priorität sei es, die ganze nördliche Grenze zu stärken, alle Regionen dort, sagte er. Selenskyj wollte mit seinem Besuch in der Region in der Nähe von EU- und Nato-Mitglied Polen auch das Sicherheitsgefühl der Menschen stärken.
Auch von dem im Norden gelegenen Belarus waren russische Truppen nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert. In Belarus sind Tausende Russen stationiert, die dort Militärstützpunkte überwiegend für die Vorbereitung auf Kampfeinsätze nutzen. Experten halten einen neuen Angriff aus Belarus für aktuell nicht sehr wahrscheinlich. Trotzdem sieht die ukrainische Führung Minsk, das Moskaus Angriffskrieg unterstützt, als Konfliktpartei und als Gefahr.
Ukraine: Nordöstliches Gebiet Sumy erneut unter russischem Beschuss
Das ukrainische Gebiet Sumy im nordöstlichen Teil des Landes nahe der Grenze zu Russland ist laut Angaben der regionalen Militärverwaltung erneut zum Ziel von russischem Granatenbeschuss geworden. Im Tagesverlauf am Sonntag seien elf Explosionen registriert worden, teilte die Militärverwaltung am Abend bei Telegram mit. Es seien aber bislang weder Opfer noch Schäden an der zivilen Infrastruktur gemeldet worden. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig prüfen. Wegen ständigen russischen Beschusses hatte die ukrainische Armee die Bevölkerung der Grenzkreise im nordöstlichen Gebiet Sumy Ende Juni zur Flucht aufgefordert.
Bundestagsgutachten sieht keine Kriegsbeteiligung von Nato-Staaten
Russland wirft Deutschland und anderen Nato-Staaten indes weiter vor, sich mit ihren Waffenlieferungen am Ukraine-Krieg zu beteiligen. Die Bundesregierung weist immer wieder zurück, Kriegspartei zu sein. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sehen derzeit keine rechtlichen Anhaltspunkte dafür, dass Deutschland oder andere Nato-Staaten über ihre Waffenlieferungen am Ukraine-Krieg beteiligt sind – so wie Russland es ihnen vorwirft.
«Noch finden sich in der Völkerrechtslehre keine expliziten Rechtsauffassungen, welche die Unterstützung der Nato-Staaten zugunsten der Ukraine pauschal als eine Form der Konfliktbeteiligung bewerten», heisst es in einem aktuellen Gutachten, das von der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen in Auftrag gegeben wurde und der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.
Allerdings bemängeln die Wissenschaftler, dass die Kriterien für eine Konfliktbeteiligung im Völkerrecht nicht klar genug definiert sind. Dabei gehe es nicht nur um die «Hardware», also den Umfang und die Qualität der gelieferten Waffen. Auch die «Software» müsse berücksichtigt werden, also inwieweit Staaten an der Koordinierung, Zielsetzung oder Steuerung von Kampfhandlungen etwa über Informationen ihrer Geheimdienste oder militärische Beratung und Ausbildung beteiligt sind.
Die Linken-Politikerin Dagdelen hält die Unterstützung der Nato-Staaten für die Ukraine für eine Konfliktbeteiligung. «Nimmt man die Kriterien des Wissenschaftlichen Dienstes ernst, ist Deutschland mit den Nato-Verbündeten angesichts der massiven Waffenlieferungen an die Ukraine sowie den militärischen Ausbildungsprogrammen zur Verbesserung der Schlagkraft der ukrainischen Armee und kontinuierlichen nachrichtendienstlichen Informationen für die Kriegführung Kiews inzwischen Kriegspartei», sagt sie.
Vor Nato-Gipfel: Mehrheit der Deutschen unterstützt Zwei-Prozent-Ziel
Eine grosse Mehrheit Deutschen ist unterdessen dafür, dass die Bundesregierung jedes Jahr mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgibt. Auf dieses Ziel haben sich die Nato-Staaten jeweils verpflichtet. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sagen nur 18 Prozent der Befragten, dass zwei Prozent ihnen zu viel sei. 45 Prozent halten die von der Bundesregierung angestrebte Marke dagegen für genau richtig. 21 Prozent wünschen sich sogar noch höhere Verteidigungsausgaben.
Was am Montag wichtig wird
Die Nato-Staaten rechnen damit, dass Präsident Selenskyj seine Teilnahme am Gipfel in Vilnius bestätigt. Zugleich setzt die Ukraine ihre Gegenoffensive zur Befreiung ihrer von Russland kontrollierten Gebiete fort. Russland hatte zuletzt immer wieder behauptet, die Vorstösse der ukrainischen Truppen an ihren stark gesicherten Verteidigungslinien der Front zurückzuschlagen. Von unabhängiger Seite sind die Angaben der Kriegsparteien kaum zu prüfen. (awp/mc/hfu)