Von Dr. Fritz Kälin
Die Ukraine steht vor einem Dilemma: Sollte Russland den Donbass erobern, könnten Kyivs westliche «Freunde» es wie schon 2014/2015 dazu drängen, aus einer Position der Schwäche einem Waffenstillstand zuzustimmen. Eine zähe Verteidigung des Donbass droht aber jene ukrainischen Brigaden auszuzehren, von denen das Überleben des ganzen Landes abhängt.
Im Juli 2022 habe ich nachgezeichnet, wo die aktiven ukrainischen Heeresbrigaden bei Kriegsbeginn disloziert waren. Rund die Hälfte war um die seit 2014 eingefrorene Frontlinie im Donbass konzentriert, was dem gewagten russischen Angriffsplänen auf operativer Stufe in die Hände spielte. Die ukrainischen Fronttruppen mussten auf taktischer Stufe Heldenhaftes leisten, um die grössten Städte Kyiv und Charkiv vor einer überfallartigen Einnahme durch zahlenmässig überlegene russische Invasionstruppen zu bewahren. Dank der Verteidigung Charkivs misslang Russland die militärhistorisch erfolgsversprechende Umfassung des dichtbesiedelten Donbass. Seither muss sich der Grossteil der ukrainischen Truppen hier den frontalen russischen Angriffen entgegenstemmen. Weder das Anwachsen der ukrainischen Bodentruppen von anfänglich über 20 auf inzwischen gegen 60 reguläre Manöverbrigaden, noch ihre Gegenoffensiven bei Kherson und im nördlichen Luhansk änderten etwas an dieser Schwerpunktbildung. Aber weshalb konzentrieren beide Seiten das Gros ihrer Kräfte auf den Donbass?
Welche Seite hält den Abnützungskrieg im Donbass länger durch?
Wenn Russlands Präsident Putin seiner Bevölkerung die «Spezialoperation» jemals als erfolgreich abgeschlossen verkaufen will, muss er mindestens die Donbass-Provinzen Donezk und Luhansk vollständig erobern. Von so einem begrenzten Kriegsziel scheint die Ukraine schon vor dem 24. Februar 2022 ausgegangen zu sein. Die ununterbrochen hohen ukrainischen Truppenkonzentrationen im Donbass sollen dem Kreml-Herrscher die Erreichung dieses Zwischenziels verwehren. Zu dieser politischen Überlegung passt die militärische Praxis der Ukrainer, jede Ortschaft und Stellung im Donbass so lange wie möglich zäh zu verteidigen. Das führt bei den russischen Angriffen zu hohen Verlusten an Personal, Material und Zeit – aber auch die Verteidiger (und die Zivilbevölkerung) erleiden so mehr Opfer, als wenn die Ukrainer zu einer beweglicheren Verteidigung übergingen, die Raum aufgibt, um eigene Kräfte zu schonen. Gegen die menschenverachtenden Taktiken der russischen «Wagner»-Söldner scheinen die Ukrainer aber noch kein Gegenmittel gefunden zu haben. Bei Bachmut müssen sie selbst gut zu verteidigende Ortschaften und Stellungen unter empfindlichen Verlusten räumen. Seit Russland seine arg ausgeblutete Invasionsarmee mit Mobilisierten wieder aufpäppelt und zu einer regelrechten Kriegswirtschaft übergangen ist, stellt sich die Frage, ob Kyiv seine Bürgersoldaten im Donbass zu einem Abnützungskampf verdammt, den sie nicht mehr gewinnen können.
Je länger die Ukraine um ihr Staatsterritorium kämpft…
Sollte der ganze Donbass von Russland erobert werden, würde dies militärstrategisch für keine der beiden Seiten allzu viel ändern. Kyiv dürfte sich aber berechtigte Sorgen um die politischen Reaktionen im Westen machen, sollte der Kreml – ähnlich wie nach der Eroberung der wichtigen Stadt Debalzeve im Frühjahr 2015 – nach einem wichtigen Schlachterfolg aus einer Position der Stärke heraus «Friedenssignale» aussenden. Das westliche Lager, ja sogar die US-Regierung, scheint nach wie vor uneins, welche Kriegsziele die Ukraine erreichen muss (oder darf). Es muss zudem davon ausgegangen werden, dass praktisch alle westlichen Regierungen fest mit einer raschen Eroberung der (ganzen) Ukraine durch Russland gerechnet hatten. Das würde erklären, weshalb anfänglich nur für einen Guerilla-Krieg brauchbare leichte Waffen geliefert wurden. Man stelle sich vor, einige ukrainische Brigaden wären schon in den letzten Jahren mit all diesen westlichen second-hand-Grosswaffensystemen ausgerüstet worden, die erst seit Frühsommer 2022 an die Front tröpfeln… Kyiv hat Grund zur Sorge, dass viele seiner Verbündeten im Westen auf ein russisches Waffenstillangebot zum Preis weiterer ukrainischer Gebietsverluste mit offenen Ohren reagieren würden. Je länger der Krieg dauert, desto mehr droht die gegen Russland heroisch verteidigten Unabhängigkeit der Ukraine an die wachsende Abhängigkeit vom Westen verloren zu gehen.
…desto weniger bleibt selbst nach einem gewonnenen Krieg von ihrer Unabhängigkeit
Wie viel vom ukrainischen Territorium bei Kriegsende von Kyiv kontrolliert wird, hängt von der Stärke der Armee ab. Die Ukraine dürfte gegen eine Million Männer und Frauen mobilisiert haben. Für die Rückeroberung braucht es reguläre Brigaden mit schweren Waffen. Diese (bald 60!) Manöverbrigaden werden – nur schon aus munitionslogistischen Gründen – sukzessive von sowjetischen auf westliche Grosswaffensysteme umrüsten müssen. Und sie drohen im Donbass jene erfahrenen Soldaten zu verlieren, welche diese Waffen am wirksamsten einsetzen könnten. Erst allmählich versteht man im Westen, dass die Ukraine Kampffahrzeuge und Artilleriegeschütze nicht in tiefer zwei-, sondern höherer dreistelliger Zahl benötigt. Das vergrössert aber auch das Mitspracherecht der westlichen Lieferländer, wie lange Kyiv mit diesen Waffen weiterkämpft. Auf solche «Freunde» musste Finnland, als es sich 1939/1940 alleine gegen die Sowjetunion verteidigte, keine Rücksicht nehmen.
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