Elemente des CMS-Detektors vor dem Zusammenfügen. (Bild: CERN)
Bern – Teilchenforschung kostet Milliarden. Was hat die Gesellschaft davon, abgesehen von Antworten auf Fragen nach dem Woher? Analog zu Fleecejacken und atmungsaktiven, wasserdichten Textilien, die für «nutzlose» Mount-Everest-Expeditionen entwickelt wurden, hat die Teilchenphysik Dinge wie Krebstherapien und das Internet hervorgebracht.
Der Ursprung des Universums und die Bausteine der Materie: Teilchenphysik erforscht zugleich das Grösste und das Kleinste. Das ist teuer. Allein der Bau des vier Kilometer langen LHC-Beschleunigers am CERN bei Genf, mit dem der Nachweis des «Gottesteilchens» Higgs-Boson gelang, hat 14 Jahre gedauert und mehr als drei Milliarden Franken gekostet.
«Weil die Teilchenphysik grosse Fragen stellt, braucht sie neues, einzigartiges und oft extrem grosses Gerät», erklärte der US-Teilchenphysiker Harry Weerts vom Argonne National Laboratory unlängst im Teilchenphysik-Magazin «Symmetry».
So etwas kann man nicht im Katalog bestellen, also müssen Physiker und Ingenieure alles selber basteln. Dies bringt Gerätschaften, Computerprogramme und Fähigkeiten hervor, die sich in zahlreichen Bereichen wie Medizin, Medikamentenentwicklung oder Computertechnologie als nützlich erweisen.
Protonen gegen Krebs
Computer- (CT) und Magnetresonanztomographie (MRI) sind heute weit verbreitete medizinische Diagnoseverfahren. Deren Analysemethoden haben Teilchenphysiker für ihre Detektoren entwickelt, die aufzeichnen, in welche exotischen Teilchen Elementarteilchen zerfallen, wenn sie auf beschleunigt werden und aufeinanderprallen.
Superschnelle Teilchen werden aber auch direkt zur Behandlung Kranker genutzt, zum Beispiel in der Röntgen-, Protonen- und Ionentherapie. 1984 war das Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen AG die erste Institution, die Protonentherapie zunächst zur Behandlung von Tumoren im Auge anwendete.
Hierfür werden Protonenstrahlen in einem Ringbeschleuniger namens Synchrotron erzeugt, beschleunigt und gezielt auf den Tumor geschossen. Der Vorteil: Der Protonenstrahl durchdringt das umliegende Gewebe und schädigt es deshalb nicht.
Auch das Röntgenlicht der Synchrotron Lichtquelle Schweiz, ebenfalls am PSI, entsteht dank beschleunigten Teilchen. Mit diesem gigantischen Mikroskop lassen sich Eigenschaften unterschiedlichster Materialien untersuchen, etwa potenzielle Medikamente. Aber auch die Zähne von Urfischen, eine Bronzezeit-Axt und Lithium-Ionen-Batterien wurden am PSI schon durchleuchtet.
Internet für Datentausch
Das Internet, das aus dem modernen Leben nicht mehr wegzudenken ist, wurde in den 1990er Jahren am CERN entwickelt, damit Teilchenphysiker ihre enormen Datenmengen leichter austauschen können. Sie waren auch führend beim Grid-Computing, bei dem viele Computer zusammen riesige Datenmengen bewältigen, wie sie etwa bei der Gen- oder Erdbebenforschung anfallen.
Auch die Halbleitertechnologie wurde von Teilchenphysikern für ihre Detektoren verfeinert. Halbleiter sind Materialien, die je nach Temperatur elektrische Leiter oder Nichtleiter sind. Sie sind zentrale Bausteine von Computerprozessoren und heute auch von Solarzellen.
Kluge Köpfe
Nicht zuletzt bringt die Teilchenforschung eine Menge kluger Köpfe hervor. «Teilchenphysik macht Menschen zu besonders guten Problemlösern», sagte Michelangelo D’Agostino, der für eine US-Kreditkartenfirma arbeitet, gegenüber «Symmetry». Teilchenphysiker arbeiten heute bei Google, der NASA oder bei Rückversicherern wie der Swiss Re, wo sie zum Beispiel komplizierte Gefahrenmodelle erstellen.
Abgesehen vom konkreten Nutzen sind auch noch einige der ganz grossen Fragen unbeantwortet – auch wenn das Higgs-Teilchen, das sichtbarer Materie ihre Masse verleiht, aufgespürt wurde. Doch 95 Prozent unseres Universums bestehen aus unsichtbarer «Dunkler Materie» und «Dunkler Energie». Woraus diese sind und wo sie herkommen, ist noch völlig unklar. (awp/mc/ps)