Vontobel Marktkommentar Brasilien: Wirtschaftsreformen werden unter beiden Präsidentschafts-Kandidaten vorankommen

Wer macht das Rennen - Lula da Silva (l.) oder Amtsinhaber Bolsonaro?

Der Ausgang der zweiten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen ist unsicher. Doch egal, welcher Kandidat gewinnt, er sieht sich mit trüben wirtschaftlichen Aussichten konfrontiert. Diese sind auch der Grund dafür, dass der in letzter Zeit vorherrschende Optimismus in Bezug auf die brasilianische Wirtschaft unangebracht ist.

Von Thierry Larose, Portfolio Manager, Vontobel

Einheimische und ausländische Anleger begrüssten die Aufholjagd von Jair Bolsonaro, da die Märkte in der Regel davon ausgehen, dass rechtsgerichtete Regierungen besser in der Lage sind, das Wirtschaftswachstum zu fördern und gleichzeitig die öffentlichen Finanzen verantwortungsvoll zu verwalten. Wir gehen jedoch nach wie vor davon aus, dass Lula da Silva mit knappem Vorsprung gewinnen wird. Bolsonaros negativer Abstand von 6,5 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang muss durch einen massiven Transfer von Stimmen, mehr als 70 %, von den Wählern von Simone Tebet und Ciro Gomes, die im ersten Wahlgang kandidierten, oder durch einen signifikanten Transfer von Stimmen aus ungültigen und leeren Stimmzetteln zugunsten des derzeitigen Präsidenten geschlossen werden. Die in Brasilien illegale Stimmenthaltung und die ungültige Stimmabgabe sind jedoch in Brasilien seit jeher stabil, so dass dies kaum zu einer Änderung des Wahlergebnisses führen dürfte.

Aufhebung der Obergrenze der Staatsausgaben für beide Kandidaten attraktiv
Die Wirtschaftsreformen werden wahrscheinlich unter beiden Regierungen voranschreiten, da es keine andere Möglichkeit gibt, die durch die verfassungsmässige Ausgabenbegrenzung auferlegten Grenzen einzuhalten. Lula da Silva würde sich sicherlich aktiv um die Aufhebung dieser Obergrenze bemühen, aber die Hürde scheint zu hoch zu sein, als dass seine Koalition zu diesem Zweck eine qualifizierte Mehrheit erreichen könnte. Dies gilt insbesondere für den Senat, in dem die rechten Parteien dominieren. Bolsonaro würde diese Beschränkung ebenfalls gerne ändern, aber der politische Spielraum seines Wirtschaftsministers Paulo Guedes ist nicht unbegrenzt, und er wird einige Kompromisse bei seinen Hauptzielen eingehen müssen.

Die dringlichste Herausforderung für einen der beiden Gewinner dürfte die Verwaltungs- und Steuerreform sein. Eine Lula-Präsidentschaft würde wahrscheinlich auch versuchen, die Ungleichheiten zu verringern, die Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu erhöhen, die Umwelt wieder auf die Tagesordnung zu setzen und die Rolle des Landes in der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen. Stattdessen würde eine Präsidentschaft Bolsonaros weiter daran arbeiten, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu verringern und die Geschäftstätigkeit zu erleichtern, während er gleichzeitig versuchen würde, die durch den Wahlkampf unterminierte Steuerdisziplin wiederherzustellen.

Privatisierung: Gegensätzliche Ansätze
Die Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie die Versteigerung von Lizenzen für den Betrieb öffentlicher Infrastrukturen sind ein Kernziel von Bolsonaros Wirtschaftsminister Paulo Guedes und werden es auch bleiben, wenn Bolsonaro ein zweites Mandat gewinnt. Tatsächlich ist dies die einzige Karte, die er ausspielen kann, um die öffentliche Schuldenlast zu verringern, wenn die realen Zinssätze viel höher sind als das reale BIP-Wachstum und angesichts der grossen Herausforderung, im nächsten Jahr einen Primärüberschuss im Haushalt zu erzielen. Andererseits sind Privatisierungen im grossen Stil mit vielen juristischen und politischen Hürden verbunden und brauchen viel Zeit, um zustande zu kommen. Insbesondere die Privatisierung von Petrobras würde nicht nur länger als eine Amtszeit des Präsidenten dauern, sondern auch auf den Widerstand, um nicht zu sagen die Opposition von Bolsonaro selbst stossen, dessen populistisches Programm einen ständigen und aktiven Interventionismus in die Preispolitik des Unternehmens erfordert. Im Gegensatz dazu würde eine Präsidentschaft Lulas sicherlich ein Ende der Privatisierungen von Staatsbetrieben bedeuten, aber wir glauben nicht, dass Wiederverstaatlichungen auf seiner Agenda stehen.

Der Gewinner wird mit einer schleppenden Wirtschaft konfrontiert
Wir zeichnen kein so rosiges Bild von der Wirtschaft in Brasilien. Das Wachstum ist zwar vorhanden, aber es ist vor allem das Ergebnis der Wiederbelebung der Wirtschaft nach Corona, mehrerer Runden fiskalischer Anreize und hoher Rohstoffpreise. Alle diese Faktoren werden entweder auslaufen oder einfach abnehmen. Die Erwartungen für das nächste Jahr sind deutlich niedriger und liegen kaum noch im positiven Bereich.

Die Gesamtinflation ist derzeit besonders niedrig, was jedoch in erster Linie auf die im letzten Sommer eingeführten Steuersenkungen für Energieprodukte zurückzuführen ist. Auch die nicht administrierten Preise haben sich dank der restriktiven Geldpolitik verlangsamt, aber die Kerninflation liegt immer noch auf einem hohen Niveau, was in Anbetracht der Tatsache, dass der Straffungszyklus nun zu Ende ist, Anlass zur Sorge gibt. Besorgniserregend ist auch die nach wie vor zweistellige Inflation bei Nahrungsmitteln und Getränken, da diese Warengruppe für einen grossen Teil der brasilianischen Bevölkerung wichtig ist.

Ein weiterer Grund zur Sorge sind die rund 1 Billion Reais an notleidenden Verbraucherschulden, die auf den Familienfinanzen lasten. Fast 80 % der brasilianischen Familien sind verschuldet, und 30 % von ihnen haben aufgrund der extrem hohen Zinssätze für Privatkredite Schwierigkeiten, ihre Schulden zu bedienen. So kostet beispielsweise ein Autokredit rund 2 % pro Monat (ca. 27 % p.a.) und ein Überziehungskredit für eine Kreditkarte rund 14 % pro Monat (ca. 380 % p.a.).

Vorsichtige Finanzpolitik geboten
Die guten Ergebnisse bei den Steuereinnahmen wurden in diesem Jahr bisher hauptsächlich für Steuersenkungen und Subventionen verwendet und nicht für den Schuldenabbau oder die Nettokapitalbildung.

Was die Schuldentragfähigkeit anbelangt, so wird die Bruttoverschuldung im Verhältnis zum BIP, nachdem sie im letzten Jahr dank des hohen nominalen BIP-Wachstums deutlich zurückgegangen ist, im Jahr 2023 wieder ansteigen. Die Nettoverschuldung wird durch den negativen Mark-to-Market-Effekt der höheren Dollarkurse auf die Währungsreserven beeinträchtigt.

Darüber hinaus sind die Kosten für den Schuldendienst immer noch recht hoch (fast 25 % der Staatseinnahmen), da mehr als 70 % des Schuldenstandes entweder an den geldpolitischen Zinssatz (über die Letras Financeiras do Tesouro) oder an die Inflation (über die Notas do Tesouro Nacional – Série B/C) gebunden sind. Für Euphorie ist also auch auf dieser Seite wenig Platz.

Alles in allem sind wir nicht übermässig beunruhigt, aber wir halten den brasilianischen Real nicht für besonders billig und sind skeptisch gegenüber der optimistischen Sichtweise, die in letzter Zeit vorherrscht. Konstruktiver sind wir bei der Duration, wo wir im Vorfeld des Beginns des geldpolitischen Lockerungszyklus Spielraum für eine Senkung der Zinsen sehen. Die realen (inflationsbereinigten) Zinssätze sind unhaltbar hoch, und hier sehen wir derzeit das überzeugendste Risiko-Rendite-Verhältnis. (Vontobel/mc)

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