Vor 25 Jahren: IBM entdeckt Hochtemperatur-Supraleitung

Vor 25 Jahren: IBM entdeckt Hochtemperatur-Supraleitung

Jubiläumssignet «100 Jahre IBM».

Rüschlikon – Vor 25 Jahren veränderte ein Experiment der IBM Forscher J. Georg Bednorz und K. Alex Müller die Physik nachhaltig: Es gelang ihnen, in einem oxidischen Material Supraleitung bei einer Temperatur nachzuweisen, die um 50% höher lag als der damalige Rekord, nämlich bei -238 Grad Celsius. Ihre Entdeckung schlug ein neues Kapitel in der Geschichte der Physik auf und wurde 1987 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.

Ihre wegweisende Arbeit mit dem Titel „Possible High Tc Superconductivity in the Ba – La – Cu – O System“1 reichten die beiden Forscher am 17. April 1986 zur Publikation in der Zeitschrift für Physik B ein. Die Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung in einer Materialklasse, in der man dies nicht für möglich gehalten und die man deshalb bereits aufgegeben hatte, löste eine wahre Lawine von Forschungsaktivitäten hinsichtlich noch höherer Temperaturrekorde und möglicher neuartiger Anwendungen in der Messtechnik, der Elektrotechnik und der Mikroelektronik aus. Professor Gösta Ekspong von der Königlich-Schwedischen Wissenschaftsakademie beschrieb anlässlich der Verleihung des Nobelpreises am 10. Dezember 1987 die Situation wie folgt2: „Diese Entdeckung ist noch sehr jung, sie liegt weniger als zwei Jahre zurück, hat aber weltweit bereits jetzt Forschungsaktivitäten in einem bislang unbekannten Ausmass ausgelöst.“

Ein Jahrhundert Supraleitung
Die Supraleitung wurde 1911 vom niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes entdeckt und ist bis heute eines der spektakulärsten Phänomene in der Physik. Sie wurde vorerst nur in gewissen Metallen, wie Zinn oder Blei, nachgewiesen, die auf eine Temperatur sehr nahe am absoluten Nullpunkt von -273,15 Grad Celsius abgekühlt wurden. Unterhalb einer für jedes supraleitende Material spezifischen Temperatur – der Sprungtemperatur – beginnt der Strom ohne Widerstand durch das Material zu fliessen, also ohne Energieverlust durch Wärme. Schon damals erhofften sich die Wissenschaftler, dank diesem Phänomen eine verlustfreie Übertragung von Elektrizität erzielen zu können. Ein wichtiger Nachweis der Supraleitung ist der so genannte Meissner-Effekt. Dieser beschreibt die Eigenschaft von Supraleitern, im supraleitenden Zustand ein äusseres Magnetfeld aus ihrem Inneren zu verdrängen. Ein Magnet, der dadurch über einem supraleitenden Material schwebt, ist das bekannteste und wohl eindrücklichste Bild des Meissner-Effekts.

Entdeckung entfacht weltweite Forschungsaktivitäten
Nach der Entdeckung der Supraleitung konnten die Forscher nur davon träumen, ein Material zu entdecken, das auch bei Temperaturen weit über dem absoluten Nullpunkt supraleitend blieb, und während 75 Jahren wurden nur kleine Fortschritte erzielt. Selbst wenn neue Supraleiter entdeckt wurden, so lagen ihre Sprungtemperaturen jeweils nur um Bruchteile eines Grades über dem bisherigen Rekord. 1983 begannen Georg Bednorz und Alex Müller mit der Untersuchung von Oxid-Verbindungen, die Kupfer sowie ein oder mehrere von Metallen der Seltenen Erden enthielten. Ihre bahnbrechende Idee war, dass die Kupferatome die Elektronen leiten könnten, weil ihre Wechselwirkung mit dem sie umgebenden Kristall stärker ist als in einem normalen elektrischen Leiter. Um ein chemisch stabiles Material zu erhalten, fügten die beiden Forscher Barium zu den Lanthan-Kupferoxid-Kristallen bei. Das resultierende keramische Material ergab den ersten erfolgreichen Hochtemperatur-Supraleiter.

Supraleiter in der Anwendung
Ihre Entdeckung war der Startschuss zu einem fieberhaften Rennen um die höchste Sprungtemperatur in der neuen Materialklasse. Ein erster fulminanter Höhepunkt war das Jahrestreffen der Amercian Physical Society in New York vom 16. bis 20. März 1987. An diesem denkwürdigen „Woodstock der Physik“3 präsentierten mehr als 50 Wissenschaftler in einer Marathonsitzung ihre neuesten Materialrezepte für immer höhere Sprungtemperaturen, alle basierend auf der Entdeckung von Bednorz und Müller. Hochtemperatur-Supraleitung ist heute nicht mehr nur ein wissenschaftliches Thema sondern wird in verschiedenen Anwendungen erprobt oder bereits genutzt:

  • Die Firma American Superconductor bietet weltweit energieeffiziente Stromleitungen mit Drähten aus Hochtemperatur-Supraleitern (HTS) an. 2008 wurde die erste HTS-Leitung auf Long Island, New York, in Betrieb genommen. Aktuell werden auf der 600 Meter langen Leitung bis zu 574 Megawatt übertragen, was ausreicht, um den Strombedarf von 300000 Haushalten abzudecken. Das „Tres Amigas“-Projekt im Südwesten der USA hat zum Ziel, eine Verbindung für die drei US-Stromnetze zu entwickeln und die erste zentrale Marktschnittstelle für erneuerbare Energie in den USA zu schaffen. In Südkorea hat LS Cable vor kurzem 3000 km HTS-Draht bestellt – die aktuell grösste Bestellung weltweit.
  • Magnetresonanz-Tomografen, die heutzutage weltweit in der Medizin eingesetzt werden, erzeugen mittels kleiner supraleitender Magnetspulen ein rotierendes Magnetfeld, das detaillierte Bilder des menschlichen Körpers generiert. Die Hersteller untersuchen den Einsatz von HTS, um eine neue Generation effizienterer Tomografen zu entwickeln.  In Asien werden Magnetschwebebahnen, so genannte Maglev-Bahnen, getestet, die dank eingebauten supraleitenden Magneten über der Stahltrasse schweben und dadurch schneller und energieeffizienter als andere Züge sind. In Japan haben Maglev-Bahnen bei ersten Tests Geschwindigkeiten von 581 km/h erreicht.
  • In der metallverarbeitenden Industrie werden Metalle in elektrischen Bolzenheizern auf Umformtemperaturen von 1100 Grad Celsius erhitzt. Die deutsche Firma Bültmann GmbH entwickelte in Zusammenarbeit mit der Zenergy Power GmbH einen magnetischen Blockheizer, der dank dem Einsatz von HTS einen Wirkungsgrad von 80% erreicht und so bis zu 50% Energie einspart. Das Unternehmen erhielt dafür in 2009 den Deutschen Umweltpreis.
  • Für den Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum CERN werden Hochtemperatur-Supraleiter als Komponenten für die Stromzuführung der Elektromagnete eingesetzt. Damit kann Starkstrom bis zu 13000 Ampere übertragen werden.

100 Jahre IBM – 100 Jahre Fortschritt
Die Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung ist einer der 100 bedeutendsten Meilensteine in IBMs 100jähriger Geschichte (www.ibm100.com), mit denen IBM ihre Rolle als Treiber von Innovation und Fortschritt in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft unterstreicht.  Das Jubiläumssignet „100 Jahre IBM“ zur Hochtemperatur-Supraleitung zeigt ein stilisiertes Schema der Perovskitstruktur, die zur Entdeckung der HTS führte (mittleres Bild) und ein Foto des Meissner-Effekts, das einen Magneten zeigt, der über einem Supraleiter schwebt (rechtes Bild). (IBM/mc/ps)

Mehr Informationen über die 100 IBM Jubiläumssignete finden Sie hier: http://www.ibm.com/ibm100/us/en/icons/

Quellennachweis:
1 Eine Kopie der Originalpublikation ist auf Anfrage erhältlich.
2 Quelle: Archiv auf http://nobelprize.org
3 New York Times, Discoveries Bring a ‘Woodstock’ for Physics, 20 March 1987, James Gleick, http://www.nytimes.com/1987/03/20/nyregion/discoveries-bring-a-woodstock-for-physics.html

IBM Research Zurich

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