Von Jérôme Mäser, Equity Analyst VP Bank
Es droht ein Lieferstopp von russischem Gas. Bislang sind die Tanks in Europa aber gut gefüllt.
Russland ist der wichtigste Gaslieferant Europas und für ungefähr 40 % des Importvolumens der EU verantwortlich. Bis zuletzt kam das Gas en masse über die drei russischen Pipelines Nord Stream I (58% des Volumens in 2021), Brotherhood und Yamal (je 21%). Aber die Zufuhr stockt.
Denn die Beziehung zwischen der EU und Russland sind seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine getrübt. Zum einen wurde die Inbetriebnahme der umstrittenen Gas-Pipeline Nord Stream II auf Eis gelegt. Sie hätte Deutschland über die Ostsee direkt mit Gas aus Russland versorgt. Zum anderen verhängt Brüssel laufend neue Sanktionen gegen Moskau.
Soviel Gas fliesst derzeit nach Deutschland
Mit den derzeit sukzessiv sinkenden Gaslieferungen holt der russische Präsident Wladimir Putin zu einem effektiven wirtschaftlichen Vergeltungsschlag aus. Spitzenvolumina von rund 300 Millionen Kubikmeter pro Tag (vgl. Grafik) sind bereits seit September nicht mehr erreicht worden. Tendenziell sank das Volumen während des Kriegs weiter.
Seit März ist der Gasfluss über die Yamal Pipeline, die über Polen nach Deutschland führt, gänzlich gestoppt. Dennoch sind die zu Beginn des Jahres spärlich gefüllten europäischen Gastanks dank milden Wetterbedingungen bisher gut gefüllt.
Europäische Gaslager bislang durchschnittlich gefüllt (In Terawattstunden TWh)
Seitdem die EU Ende Mai ein Embargo auf Rohöl und Ölprodukte aus Russland verhängt hat, sind die Lieferungen über die zwei anderen grossen Pipelines Nord Stream I und Brotherhood eingebrochen. Per Stichtag 28. Juni flossen im Jahresvergleich 59 % bzw. 73% weniger Gas. Droht nun ein Lieferstopp?
Gaslieferungen werden auf null fallen
Grund zur Beunruhigung gibt es. Im historischen Vergleich ist zwar ein Lieferausfall nichts Ungewöhnliches, sondern ein saisonales Phänomen. Wie schon in den vergangenen Jahren hat der russische Pipelinebetreiber Gazprom auch für diesen Sommer Wartungsarbeiten an Nord Stream I zwischen 11. und 21. Juli angekündigt.
Meistens finden gleichzeitig an der Brotherhood Pipeline Wartungsarbeiten statt. In der Regel kommt es also zu einem abrupten Stopp. In der Vergangenheit gab es während solcher Phasen aber immer noch Lieferungen über die Yamal Pipeline, durch die derzeit kein Gas fliesst. Ausserdem verfügen viele Ländern über Zwischenspeicher.
Ungewöhnlich ist im laufenden Jahr, dass die Liefervolumen bereits im Vorfeld massiv gefallen sind. Als Grund nennt Gazprom fehlende Ersatzteile des deutschen Unternehmens Siemens, die aufgrund der Wirtschaftssanktionen nicht geliefert werden dürfen.
Noch befinden sich die europäischen Gasbestände nahe am historischen Durchschnitt und es bleibt bis zum Winter noch genügend Zeit, um die Lager aufzufüllen.
Aber es besteht die Gefahr, dass Russland die fehlenden Ersatzteile bzw. Wartungsarbeiten als Vorwand nimmt, um Europa den Gashahn zuzudrehen. Das entspricht seit dem Kriegsausbruch unserem Risikoszenario für die europäische Wirtschaft.
Deshalb wird entscheidend sein, ob Gazprom den Gasfluss nach den Wartungsarbeiten wieder aufnehmen kann und wird. Bleiben die Gaslieferungen aus, führt dies nicht unmittelbar zu einem Kollaps der Energieversorgung. Aufgrund des im Sommer saisonal niedrigeren Verbrauchs würden die Speicher für knapp sechs Wochen genügen. Allerdings würde sich dies rächen, denn der Sommer ist wichtig, um die Speicher zu füllen.
Keine Entspannung bei den Gaspreisen
Diese Aussichten versetzen die europäischen Länder unter Zugzwang, insbesondere osteuropäische, welche direkt an den Pipelines aus Russland hängen. Deutschland hat bereits die zweite Stufe des Gasnotfallplans ausgerufen.
Neben dem Apell der Politik, Gas zu sparen, erstrecken sich erste Massnahmen von der Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken bis hin zu Auktionsmodellen, die Anreize für industrielle Gasverbraucher schaffen sollen, um Gas zu sparen. Viele Industriebetriebe verfügen über Anlagen, die alternativ auch mit Heizöl betrieben werden können.
Zudem sollen im nächsten Jahr weitere Flüssiggasterminals in Betrieb genommen werden. Sollten die Massnahmen allerdings nicht ausreichen, um die Gasnachfrage zu bedienen, müsste der Staat aktiv in das Marktgeschehen eingreifen und Rationierungen für die Industrie anordnen.
Ungeachtet davon, ob Rationierungen notwendig sind oder nicht, die Gaspreise werden im laufenden Jahr auf erhöhtem Niveau verharren und eine Entspannung ist vorerst nicht in Sicht. Dies wird auch die Inflation in Europa beeinflussen. Sollte wirklich über einen längeren Zeitraum kein Gas mehr aus Russland in die EU fliessen, würde sich dies in deutlich höheren Gaspreisen äussern und die europäische Wirtschaft empfindlich treffen. (VP Bank/mc/ps)