VP Bank: Was der Sommerurlaub mit der EZB zu tun hat
Dank rekordhoher Touristenzahlen läuft es den Mittelmeerstaaten gut. Das gibt der EZB Spielraum für weitere Zinserhöhungen.
von Dr. Thomas Gitzel, Chief Economist VP Bank
Den Mittelmeerstaaten steht ein Rekordsommer bevor. Der spanische Tourismusminister rechnet etwa mit einer noch nie gemessenen Anzahl von Besuchern. Mehr als 68 Millionen Urlaubende werden 2023 laut Prognose des Meinungsforschungsinstituts Demoskopika in Italien erwartet – ein Rekordhoch auch im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie.
Die grosse Reiselust hat sich in den Statistiken für das laufende Jahr bereits niedergeschlagen. Spanien verzeichnete im April knapp 7.3 Millionen Besucher aus dem Ausland, womit die bisherige Höchstmarke für diesen Monat (gut 7.2 Millionen 2019) übertroffen wurde. Im Zeitraum von Januar bis April wuchsen die Touristenzahlen um satte 32 % gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum.
Wirtschaftliche Stütze
Für die Wirtschaft der südeuropäischen Staaten ist der Tourismussektor von hoher gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. In Kroatien beispielsweise gehen rund 11 % der Bruttowertschöpfung darauf zurück, auch in Portugal, Spanien und Italien sind es Beiträge, die über dem EU-Schnitt liegen (vgl. Grafik).
Kroatien profitiert am meisten
Der Touristenstrom ist eine Folge der Reise-Einschränkungen, die während der Corona-Pandemie von 2020 bis 2022 galten. Aus diesem Blickwinkel sollte es nicht weiter verwundern, wenn die Feriensaison 2023 sämtliche Rekorde bricht. Doch in Anbetracht der gestiegenen Lebenshaltungskosten und dem schrumpfenden real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in Europa bleibt dennoch eine gewisse Verwunderung über diese Zahlen. Denn etwa 40 % der Besucher im Mittelmeerraum sind Personen aus Ländern im Norden Europas, konkret Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Skandinavien und Grossbritannien. Überall in diesen Ländern hat die Inflation klare Spuren in der Wirtschaft hinterlassen.
Doch der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) berichtet in seiner Tourismusstudie 2023 von einem hohen Reisebedürfnis der Menschen, das krisenfest sei. Weder Pandemie noch Energiekrise und Inflation würden von einem Urlaub dauerhaft abhalten. Die vom ADAC durchgeführte Befragung zeigt, dass rund drei von vier Deutschen ein gleich grosses oder sogar grösseres Reisebudget als im Vorjahr haben – trotz höherer Lebenshaltungskosten. Gespart wird also bei allen anderen Ausgaben wie Lebensmitteln, Möbel und Kleidung.
Die realen deutschen Einzelhandelsumsätze brachen zuletzt so stark ein, wie noch nie seit Ende des zweiten Weltkriegs. Während also im Norden Europas an Alltäglichem gespart wird, profitiert der europäische Süden vom unangetasteten Reisebudget vieler Haushalte. Kurzum: Der Norden Europas trägt über den Sommer hinweg das Geld in den Süden.
Ähnliches konnte bereits im letzten Jahr beobachtet werden. Die Bruttowertschöpfung im Dienstleistungssektor wächst im Süden Europas deshalb schon seit zwei Jahren deutlich schneller: Je nach Vergleich stellenweise mehr als doppelt so schnell wie bei den nördlichen Nachbarn. Die nordeuropäischen Länder landen in diesem Vergleich auf den hinteren Plätzen.
Es muss auch nicht weiter verwundern, dass diese Entwicklung auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum (BIP) abfärbt. Die BIP-Zuwächse erweisen sich in den südeuropäischen Ländern schon seit geraumer Zeit als deutlich dynamischer als im Norden Europas. Deutschland steckt bereits in der Rezession, in Frankreich hält sich die Wirtschaft nur knapp im Plus. Umgekehrt gehören Kroatien, Griechenland, Spanien und Portugal zu den Zugpferden.
Süd-Nord-Gefälle hat auch Konsequenzen für die EZB
Das Wachstumsgefälle zwischen Süd und Nord ist etwas über zehn Jahre nach der Eurokrise weit mehr als eine gute Nachricht für die Europäische Zentralbank (EZB). Seit Bestehen des gemeinsamen Währungsraums waren die südeuropäischen Länder die schwächsten Glieder in der Kette namens Eurozone. Immer wieder musste die EZB bei der Zinsfestsetzung auf diese Gruppe Rücksicht nehmen.
Im jetzigen Zinserhöhungszyklus ist dies aber nicht der Fall. Italien, Spanien, Portugal und Griechenland schlagen sich auf der Wachstumsseite besser als Deutschland und Frankreich. War noch zu Beginn der Leitzinserhöhungen der EZB die Sorge vor einer neuerlichen Krise in der Eurozone gross, kann davon trotz Zinserhöhungen in Rekordgeschwindigkeit keine Rede sein. Die Risikoaufschläge (Differenz der Renditen, Spreads) auf 10-jährigen Anleihen der südeuropäischen Staaten gegenüber deutschen Bundesanleihen blieben seit Beginn des geldpolitischen Straffungszyklus entweder stabil oder haben sich sogar reduziert.
Risikoaufschläge südeuropäischer Staatsanleihen gegenüber Deutschen Bundesanleihen in Prozentpunkten
Auch die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung erodiert trotz der Zinserhöhungen nicht. Im Gegenteil, die südeuropäischen Staaten sind Gewinner der Inflation. Das nominale Bruttoinlandprodukt (BIP) wächst derzeit schneller als die Verschuldung, weshalb das Verhältnis von öffentlichen Verbindlichkeiten zum BIP rückläufig ist (vgl. Tabelle).
In Deutschland präferiert man trotz wirtschaftlicher Schwäche weitere Zinserhöhungen. Dafür steht auch EZB-Ratsmitglied und Präsident der deutschen Bundesbank, Joachim Nagel. Das bedeutet: Grüner könnten die Ampeln für weitere Zinserhöhungen der EZB nicht sein.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde machte deshalb jüngst keinen Hehl aus den Absichten der Notenbank. Die EZB werde angesichts der weiterhin hohen Inflationsraten vorerst nicht von ihrem Straffungskurs abrücken, wie Lagarde am jährlichen EZB Forum Ende Juni im portugiesischen Sintra sagte.
Wir erhöhen deshalb unsere Leitzinsprognose für die EZB und rechnen neu mit zwei zusätzlichen Zinserhöhungen im September und im Oktober von 25 Basispunkten (BP). Dies, zusammen mit einer Erhöhung im Juli von 25 BP, würde den Hauptrefinanzierungssatz von derzeit 4 % auf 4.75 % und den Einlagensatz auf 4.25 % (derzeit: 3.5 %) bringen. (VP Bank/mc/pg)