Wahlrecht ohne Pass – eine Chance für die Integration?

Wahlrecht ohne Pass – eine Chance für die Integration?
In Schweden dürfen auch Personen ohne schwedischen Pass wählen gehen. Die Auswirkungen auf die Einbürgerungszahlen unterscheiden sich je nach Ausländergruppe. (Foto: Adobe Stock / Unibas)

Basel – In Schweden dürfen sich Zugezogene an regionalen Wahlen beteiligen, auch wenn sie keinen schwedischen Pass besitzen. Forschende der Universität Basel haben untersucht, ob sich dadurch die Zahl der Einbürgerungen ändert. Die Erkenntnisse könnten auch für die Schweiz relevant sein.

Demokratisches Mitspracherecht ist meist den Staatsangehörigen des jeweiligen Landes vorbehalten. Wer abstimmen und wählen will, muss sich also einbürgern lassen. Bislang gilt das auch in der Schweiz weitgehend, wobei in manchen Gemeinden und Kantonen Ausländerinnen und Ausländer zumindest bei manchen Vorlagen an die Urne dürfen.

In Schweden dürfen alle Ausländerinnen und Ausländer nach einer gewissen Aufenthaltsdauer auf regionaler Ebene wählen, auch ohne schwedischen Pass. EU-Bürgerinnen und -Bürger erhalten das Wahlrecht sofort bei Wohnsitznahme, Ausländer und Ausländerinnen aus Drittstaaten müssen seit mindestens drei Jahren im Land leben, um das regionale Wahlrecht zu erhalten.

Das Forschungsteam hat im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts nccr – on the move untersucht, ob und inwiefern sich diese sogenannte Entkoppelung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft auf die Motivation zur Einbürgerung auswirkt, die gemeinhin als Zeichen gelungener Integration gilt. Die Resultate publizierten die Forschenden der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und der Universität Malmö kürzlich im Journal of Ethnic and Migration Studies.

Demokratische Mitbestimmung als Ziel
Die Forschenden gingen im Vorfeld von zwei möglichen Effekten aus: «Auf der einen Seite erwarteten wir, dass sich die Menschen weniger oft einbürgern lassen, weil sie ja auch so mitbestimmen dürfen. Auf der anderen Seite vermuteten wir, dass die Erfahrung mit dem Wahlrecht ein zusätzlicher Motivator sein könnte, sich im Gastland zu integrieren und schliesslich den Pass zu erwerben», sagt Alois Stutzer, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Basel.

Die Analyse der schwedischen Zahlen zur Einbürgerung liefert Hinweise für gleich beide Hypothesen. Entscheidend dafür, ob sich jemand nach der Einladung zur Wahlteilnahme mit höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit um die schwedische Staatsbürgerschaft bemühte, war demnach das Herkunftsland. Für Geflüchtete und Personen aus Ländern mit einem niedrigen Lebensstandard (Human Development Index – HDI) scheint die Erfahrung mit dem Wahlrecht eine zusätzliche Motivation zu sein, sich einbürgern zu lassen. Im Gegensatz dazu strebten Personen aus Ländern mit einem hohen Lebensstandard die Staatsbürgerschaft weniger oft an, wenn sie davor an den Wahlen teilnehmen konnten.

«Für Personen aus Ländern mit einem tieferen HDI ist es oft eine neue Erfahrung, an freien demokratischen Entscheidungen teilzunehmen» sagt Alois Stutzer. Der schwedische Pass bringt zudem Vorteile über die politische Teilhabe hinaus. So wird etwa bei den Visa-Bestimmungen eine grössere Reisefreiheit in Aussicht gestellt. Für Personen aus Ländern mit einem höheren HDI ist mit dem Erhalt des Wahlrechts ein wichtiges Ziel erreicht. Ein Einbürgerungsverfahren ist dann weniger attraktiv und dringlich. «Für beide Gruppen gilt offenbar, dass sie das Wahlrecht als wertvoll einstufen, jedoch aus unterschiedlichen Motiven und mit entsprechend unterschiedlichen Auswirkungen auf eine allfällige Einbürgerung», hält Stutzer fest.

Erkenntnisse als Diskussionsbasis für die Schweiz
Auch hierzulande stellt sich die Frage immer wieder, inwieweit sich Ausländerinnen und Ausländer an Wahlen und Abstimmungen beteiligen dürfen sollen. Eine Empfehlung für die Schweizer Praxis will Alois Stutzer nicht abgeben. Es könne sich aber lohnen, die Auswertung der Zahlen aus Schweden zu beachten: «Die Stärke der Untersuchung ist, dass sie eine belastbare empirische Evidenz liefert, jenseits von Ansichten und Überzeugungen.»

Mit der direkten Demokratie unterscheidet sich das Schweizer System allerdings vom schwedischen. Dennoch vermutet Stutzer bezüglich der Wahrnehmung des Wahlrechts ähnliche Mechanismen wie in Schweden. Für die vielen Ausländerinnen und Ausländer aus hochentwickelten Ländern könnte der Erhalt des Stimmrechts entsprechend ihre Bemühungen um eine Einbürgerung reduzieren.

Für ehemalige Flüchtlinge wiederum könnte die Vergabe des Wahlrechts auch in der Schweiz ein Ansatzpunkt für eine schnellere Integration sein. «Es gibt empirische Evidenz dafür, dass demokratische Werte durch demokratische Erfahrungen gestärkt werden», so der Wirtschaftsprofessor. Für das Verständnis des Systems sei die sogenannte demokratische Sozialisierung wichtig, also die Erfahrungen mit den Mechanismen und Regeln einer Demokratie. «Davon hängen Qualität und Akzeptanz dieser Staatsform ab» ist Stutzer überzeugt.

Die Entkoppelungsdiskussion gebe es in der Schweiz auch im Rahmen des Stimmrechtsalters 16, wo das Wahlrecht von der Mündigkeit gelöst wird. «Auch hier ist zu fragen, wie sich eine frühere Erfahrung auf die demokratische Sozialisierung auswirkt», gibt Stutzer zu bedenken. Er und sein Team wollen nun untersuchen, wie sich das Stimm- und Wahlrecht für Nicht-Schweizerinnen und –Schweizer im Kanton Waadt auf die Anzahl der Einbürgerungsverfahren auswirkt. (Universität Basel/mc/ps)

Originalpublikation
Michaela Slotwinski, Alois Stutzer und Pieter Bevelander
From participants to citizens? Democratic voting rights and naturalisation behaviour.
Journal of Ethnic and Migration Studies (2023), doi: 10.1080/1369183X.2023.2193863
Universität Basel

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