Was Kampfpanzerzahlen über den «Brexit» und Europas Bedeutungsverlust aussagen können

Dr. Fritz Kälin

Der Militärhistoriker und Experte für Sicherheitspolitik, Dr. Fritz Kälin, schreibt für Moneycab über sicherheitspolitische Entwicklungen, die für die Schweiz von Bedeutung sind. Heute über Englands Machtansprüche und den Realitätstest bei der Investitionsstrategie.

Von Dr. Fritz Kälin

Grossbritannien verlässt die EU. Es hofft, als «Global Britain» seine wirtschaftlichen Einbussen gegenüber dem kontinentalen EU-Europa durch einen unabhängigeren Zugang zu den Wachstumsmärkten der restlichen Welt kompensieren zu können. Gegenüber seinem wichtigen Handelspartner China tritt es mutig auf. Huawei wurde vom Aufbau des britischen 5G-Netzes ausgeschlossen und Hongkonger Bürger finden bei ihrer alten Kolonialmacht erleichtert Zuflucht. Passenderweise baut London seit Jahren seine global einsetzbaren Luft- und Seestreitkräfte auf Kosten des Heeres aus. Zwei neue Flugzeugträger, die «Queen Elizabeth» und die «Prince of Wales», sollen für die nächsten 50 Jahre Grossbritanniens Status als globale Seemacht sichern. Und sehr zum Unmut Chinas nimmt der Trägerverband der «Queen Elizabeth» im Januar an einer Übung mit den USA und Japan in Ostasien teil. London unterstreicht parallel zum Austritt aus der EU demonstrativ, dass es am anderen Ende der Welt militärisch handlungsfähig wäre.

«Global Britain» ohne Kampfpanzer?
Was dieses «Global Britain» kaum bräuchte, sind Kampfpanzer. Die Briten haben seit 1998 nicht mehr in ihre über 400 «Challenger 2»-Kampfpanzer investiert. Davon sind nur noch 227 im aktiven Dienst, der Rest schlummert eingemottet in Reserve. Die teuren Kriege im Irak und in Afghanistan erzwangen andere Investitionen. Und der Kalte Krieg galt als gewonnen und passé. Auch die übrigen europäischen Armeen schmolzen ihre Panzerflotten in der «Friedensdividende» ein. Doch dann eskalierte 2014 der Ukrainekonflikt. Plötzlich realisierte die NATO, dass Russland seine Panzertruppen stetig modernisiert hat und in den 2020er-Jahren sogar durch modernste Modelle verstärken wird.

Das britische Heer markiert seither treue Präsenz in den Baltischen Bündnisstaaten. Ein 2016 an die Öffentlichkeit gelangter interner Bericht offenbarte aber, dass die britischen Bodentruppen einem russischen Angriff wenig entgegensetzen könnten. Und wenn die britische Panzerflotte nicht bald modernisiert wird, muss sie ersatzlos ausser Dienst gestellt werden. Trotzdem ist «Global Britain» vielleicht nicht bereit, in diese Truppengattung zu investieren, die allein zum Schutz kontinentaleuropäischer Verbündeter nützlich wäre. Es kursieren zwar kreative Alternativkonzepte, wie das Britische Heer auch ohne Kampfpanzer «smarter» seinen Beitrag im Baltikum leisten könnte. Dieses Heer wäre aber keineswegs billiger. Zum Vergleich: Deutschland wird bis 2022 auf gerade mal 328 «Leopard 2» aufstocken. Polen will nebst anderen Grossanschaffungen 800 neue Kampfpanzer kaufen.

Priorität bei der Bekämpfung von «Terrorismus» und «Fluchtursachen»
Premierminister Boris Johnson betont im Zuge des «Brexit» bei jeder Gelegenheit, dass die Briten sich Europa weiterhin eng verbunden fühlen. Eine Nagelprobe dafür wird sein, ob und wie viel Grossbritannien noch bereit ist, in sein Heer und damit in den Schutz (Ost-)Europas zu investieren, obwohl seine langfristigen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen nach völlig anderen militärischen Fähigkeiten verlangen. Gleiches gilt auch für die USA. Schon die Obama-Administration wollte mit ihrem «Pivot to Asia» die US-Landstreitkräfte in Europa reduzieren und dafür mehr Luft- und Marinestreitkräfte gegenüber Ostasien in Stellung bringen. Stattdessen müssen sie seit Ausbruch des Ukrainekonflikts in Europa sogar wieder mehr Streitkräfte als bisher in hoher Bereitschaft präsent halten. Washington macht entsprechend Druck auf seine europäischen Verbündeten, wieder mehr in die Bündnisverteidigung zu investieren, die seit 1990 vernachlässigt worden war. Ausser der Türkei hatten nämlich alle europäischen NATO-Staaten 20 Jahre lang die Umrüstung hin zu leichten Expeditionskräften priorisiert, um in weit entfernten Weltregionen den «Terrorismus» und weitere «Fluchtursachen» militärisch zu bekämpfen. (Mit welchem Erfolg eigentlich?)

Sicherheitspolitischer Bedeutungsverlust Europas
Fazit: Die USA und Grossbritannien wollen ihren Fokus schon lange auf das ostasiatische Epizentrum der Weltpolitik verlegen. Ihre bündnissolidarische Militärpräsenz in Osteuropa ist für beide Seemächte eine kostspielige Zusatzbelastung. Corona-Schulden und Chinas konstantes Erstarken werden finanzielle Priorisierungen erzwingen. Russland braucht nur den Ball flach zu halten. Dann wird es bald nicht mehr bedrohlich genug wirken, und die Angloamerikaner werden in Osteuropa ihren Fussabdruck wieder verkleinern, wie sie es schon im Irak taten und derzeit in Afghanistan einleiten. Nur die in Deutschland besonders ätzenden Stimmen gegenüber dem «Brexit» und dem 2%-Ziel der NATO halten den Sicherheitsbeistand ihrer atlantischen Partner noch immer für völlig selbstverständlich. Zumindest wir Schweizer sollten die Augen vor dem absehbaren sicherheitspolitischen Bedeutungsverlust Europas nicht verschliessen.


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