Basel – Damit während der Entwicklung funktionelle Organe entstehen, müssen Zellen korrekt kommunizieren und Form und Grösse bis ins kleinste Detail richtig ausbilden. Ein Forschungsteam der Universität Basel hat das Flügelwachstum der Fruchtfliege untersucht und dabei ein langjähriges Dogma widerlegt. Anders als bislang angenommen, ist die räumliche Verteilung eines Signalmoleküls namens Dpp nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich, dass die Fliege einen perfekten Flügel erhält.
Wie die Entwicklung von Organen verläuft, wie sie ihre korrekte Grösse und Form erhalten, sind grundlegende Fragestellungen, mit denen sich die Entwicklungsbiologie befasst. Das Morphogen Dpp ist ein Signalmolekül, welches wichtige Aspekte der Organentwicklung, u.a. das korrekte Grössenwachstum und die richtige Formgebung, steuert.
Die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Markus Affolter vom Biozentrum der Universität Basel untersucht seit vielen Jahren, wie Dpp das Flügelwachstum der Fruchtfliege Drosophila melanogaster steuert. Das Team konnte nun nachweisen, dass, entgegengesetzt früherer Annahmen, die Entwicklung des Flügels der Fruchtfliege viel weniger stark von der korrekten Verteilung von Dpp abhängt als gedacht.
Morphogene: Die Konzentration ist nicht entscheidend
Morphogene breiten sich mit einem Konzentrationsgefälle im Gewebe aus; während im Zentrum der Quelle das Morphogen in hoher Konzentration vorliegt, ist die Konzentration in der Peripherie niedrig. Bislang ging man davon aus, dass das Flügelwachstum von der Dpp-Konzentration im gesamten Gewebe abhängt, da darüber die Genaktivität und das Wachstum gesteuert wird.
Affolter’s Team hat nun entdeckt, dass der Konzentrationsgradient, insbesondere die Anwesenheit von Dpp im Aussenbereich des Flügels, für das korrekte Wachstum eine weitaus geringere Rolle spielt als gedacht. Auch wenn die Forschenden die Ausbreitung von Dpp im Gewebe blockierten, erreichte der Flügel seine nahezu normale Grösse.
Hemmten sie dagegen auch die Signalübertragung durch Dpp, blieb der Flügel klein und wuchs in der Peripherie kaum. «Das Ergebnis war so nicht zu erwarten», sagt Markus Affolter, Leiter der Studie. «Die Verbreitung von Dpp in den Aussenbereichen des Flügels ist also nicht ausschlaggebend für das Flügelwachstum. Wichtiger scheint zu sein, welche Informationen Dpp aus dem Zentrum an die Peripherie weiterleitet.»
Neue Methodik: Proteine statt Gene
Um die Verbreitung von Dpp zu untersuchen, beschreitet die Forschungsgruppe bei der Wahl ihrer Methoden neue Wege. «Wir untersuchen die Situation im Flügel nicht allein auf der genetischen Ebene, sondern direkt auf Ebene der Proteine im lebenden Organismus. Wir bleiben also nicht auf der Ebene der Erbinformation, sondern befassen uns direkt mit den ausführenden Molekülen, den Proteinen», erklärt Shinya Matsuda, Ambizione-Fellow und Erstautor der Studie. Dazu setzen die Wissenschaftler kleinste Antikörperfragmente ein, mit deren Hilfe sich Proteine im lebenden Organismus einfangen und ihre Ausbreitung im Gewebe steuern lassen.
Dass sich diese Methodik als so erfolgreich erweist, ist eine Errungenschaft für die Entwicklungsbiologie insgesamt. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, die Entwicklung von Organen bei komplexen Lebewesen zu untersuchen. Auch zeigen die neuen Erkenntnisse zur Funktionsweise des Morphogen Dpp, dass sich damit bestehende Paradigmen testen lassen.
Originalpublikation
Shinya Matsuda, Jonas V. Schaefer, Yusuke Mii, Yutaro Hori, Dimitri Bieli, Masanori Taira, Andreas Plückthun & Markus Affolter
Asymmetric requirement of Dpp/BMP morphogen dispersal in the Drosophila wing disc
Nature Communications (2021), doi: 10.1038/s41467-021-26726-6
Forschungsgruppe Prof. Dr. Markus Affolter