Basel – Die Basler Philosophieprofessorin Angelika Krebs befasst sich seit drei Jahrzehnten mit Naturethik. Im Interview der Universität Basel erklärt sie, was wir an der Natur haben und weshalb wir uns dennoch so schwertun, sie zu schützen.
Frau Krebs, was ist «Natur»? Darunter versteht wohl jeder etwas anderes.
Natur ist das, was wir Menschen nicht gemacht haben. Sie ist das, was von sich aus entsteht, sich verändert und vergeht, zum Beispiel die Blumen, die auf der Wiese blühen, oder der Wind, der durch die Blätter der Bäume geht. Anders gesagt ist die Natur nicht unsere Veranstaltung. Man hört heute freilich immer wieder, dass es die Natur, zumindest in unseren Breiten, doch überhaupt nicht mehr gebe. Diese Aussage finde ich gefährlich. Denn dann würde es sich auch nicht mehr lohnen, über die Rettung der Natur nachzudenken. Natürlich gibt es die Natur noch, wenn auch nur als von uns berührte oder kultivierte Natur. Und wäre es nicht schlimm, wenn wir uns bald nur noch in einer durch und durch menschengemachten Welt bewegten?
Was würde fehlen, wenn die Natur verschwindet?
Die Natur erinnert uns daran, dass wir nicht die Macher unseres Lebens und unserer Welt sind. Wir müssen wegkommen von diesem Macher-Wahn. Vielmehr müssen wir versuchen, ein gutes Verhältnis zu dem zu finden, was einfach da ist. Selbst wenn die äussere Natur verloren ginge, gäbe es immer noch viel, das einfach so geschieht: Jemand wird schwer krank oder ein Kind kommt behindert zur Welt. Es geht also um Demut, um Gelassenheit und auch um die Freude über das, was es alles gibt: zu staunen, sich zu wundern über die Vielfalt der Welt.
Sie haben kürzlich ein Buch veröffentlicht, dessen Hauptthema die Schönheit der Natur ist. Was ist schön an der Natur?
Ich scheue mich etwas davor, diese Frage direkt, also über eine Angabe von Schönheitskriterien wie Harmonie oder Vielfalt zu beantworten. Ich würde eher wie Immanuel Kant sagen: Schön ist das, was uns dazu einlädt, dass wir uns ihm um seiner selbst willen, also ohne Absicht auf Nutzen zuwenden. Das können ganz verschiedene Dinge sein. In der Natur gibt es jedenfalls viel, was uns dazu verführt, anders hinzugucken, hinzuhören oder hinzuriechen. Dafür muss man freilich die Zeit haben und bereit sein, mit der Natur emotional mitzuschwingen: So entsteht die Resonanz mit dem kraftvollen Aufwärtsstreben eines Baumes, mit einer hoffnungsvollen Morgen- oder einer friedlichen Abendstimmung über dem Tal. Inbegriff der ästhetischen Haltung ist für mich, dass ich mich auf das, was mir begegnet, als auf ein Gegenüber einlasse.
Es fällt uns aber offensichtlich schwer, die Natur als Gegenüber zu sehen, das wir schützen sollten. Weshalb?
(überlegt lange) Weil sich unsere Gesellschaft immer mehr in Richtung Materialismus entwickelt. Man will all diese materiellen Interessen befriedigen und Statussymbole vorweisen. Das Spirituelle, das früher, als die Religion noch wichtig war, einen wesentlichen Platz hatte, ist zurückgedrängt worden.
Wir sind mit einer Wirtschaft konfrontiert, die uns ständig etwas verkaufen will, das wir angeblich brauchen. Dafür müssen wir uns abarbeiten und geraten alsdann in ein Hamsterrad aus Arbeit und Konsum. Die Musse, die für das andere, ästhetische Verhältnis zur Natur nötig ist, haben wir oft gar nicht mehr. Wenn wir uns einmal in aller Ruhe überlegen würden, was wir wirklich brauchen im Leben, kämen wir darauf, dass die schöne Natur bestimmt dazugehört. Gleichzeitig machen wir sie aber mit unserem besinnungslosen Wirtschaftswachstum und Konsum kaputt.
Schliesslich wird die Natur zum Luxus…
Ja, das ist teilweise bereits geschehen. Und wir treiben auf eine Welt zu, in der nur noch einige Reiche und Mächtige Zugang zu den letzten Resten an intakter Natur haben. Und die vielen anderen ihr Leben in hochtechnisierten Beton- und Agrarwüsten fristen müssen. Diese Vorstellung finde ich grässlich.
Sie sagen, Sie wollen mit Ihrem Buch Mut machen, für das immaterielle Bedürfnis nach der schönen Natur einzutreten. Warum braucht das Mut?
Wenn Sie in einer Diskussion über die Lage der Natur mit den Fakten der Klimaveränderung kommen, mit der Gefährdung des Überlebens der Menschheit und was das alles kosten wird, diese Gefahr abzuwenden, hört man Ihnen gut zu. Wenn Sie aber sagen «Ich liebe die Natur, ich will ihre Schönheit erhalten», geraten Sie unter den Verdacht, selbst so ein Luxusgeschöpf zu sein, das ein Haus irgendwo in einer Bilderbuchlandschaft hat und dazu noch die Musse, die Natur dort zu geniessen. Oder Sie gelten als gefühlsduselig, man hält Sie für eine Romantikerin oder Nostalgikerin. Diese Erfahrung habe ich in meinen 30 Jahren Engagement für die Natur immer wieder machen müssen.
Wie hat sich das Bewusstsein für die Natur in dieser Zeit gewandelt?
Einerseits ist es mit dem Naturverbrauch ja immer schlimmer geworden seit den 80er-Jahren, es wird verstrasst, zersiedelt, verkabelt, ausgeräumt und ausgerottet, was das Zeug hält, obwohl viele Menschen in Umfragen ein neues, anderes Bewusstsein für die Verletzlichkeit der Natur bekunden. Andererseits hat Corona vielleicht doch etwas verändert: Die Leute sind mehr spazieren gegangen, und das hat sich gehalten. Mit der Pandemie haben sie eine Antwort auf die Frage entdeckt: «Wo kann ich denn hin, wenn ich Sorgen habe?». Viele Menschen haben gemerkt, dass ein Spaziergang ihnen guttut und sie auf andere Gedanken bringt. Ich glaube also, Corona ist eine Chance für die Natur.
Ihr Buch heisst Das Weltbild der Igel. Wie sieht dieses aus?
Der Titel ist eine Anspielung auf Peter Kurzecks Roman Vorabend, mit dem ich in meinem Buch arbeite. In dem Roman hat es zwei wunderbare Kapitel zum Weltbild der Igel. Erzählt wird darin die Erdgeschichte aus der Perspektive der Igel. Am Anfang war das Igel-Paradies, «grün und golden die Auwälder», dann kamen die ersten Menschen auf ihren Pfaden, doch sie gingen bald wieder. Irgendwann blieben sie aber und man lebte als Igel mit ihnen gut zusammen und bekam sogar ein Milchschüsselchen hingestellt dafür, dass man den Mäusen nachjagte.
Doch irgendwann wurden die Menschen dann so viele und ihre Strassen, Siedlungen, Fabriken und Supermärkte so riesig, dass man als Igel trotz allem Verständnis und aller Anpassung nicht mehr zurechtkam. Herzzerreissend ist eine Passage über fünf Igel, die auf dem Weg zum Winterschlaf vergeblich versuchen, eine stark befahrene Strasse zu überqueren. Ich zitiere diese Passage in meinem Buch. Mit dem literarischen Trick, die Welt aus der Sicht der Igel zu erzählen, verlässt man die gewohnte menschliche Perspektive, in deren Zentrum, na ja, selbstverständlich wir selbst stehen. Man verfremdet und hinterfragt also unsere zu enge anthropozentrische Sicht.
Der Untertitel lautet «Naturethik einmal anders». Was ist anders daran?
Anders ist, dass ich nicht allein auf die typisch wissenschaftliche oder philosophische Argumentation setze. Ich habe früher die Bedeutung dieser Argumentation überschätzt. Ich dachte, wenn man klar aufzeigt, inwiefern die Erfahrung der Schönheit der Natur ein notwendiger Teil des guten menschlichen Lebens ist, dann müsste das doch eigentlich dazu führen, dass die Menschen eine andere Haltung einnehmen. Es ist mir aber immer mehr aufgegangen, wie naiv das ist. Wir müssen nicht nur an den Kopf der Leute herankommen, sondern auch ihr Herz erreichen, ihre Gefühle. Emotionen und Stimmungen machen einen Teil der Vernunft aus. Vernunft ist nicht nur Rationalität oder Verstand. Ich habe dazu vor ein paar Jahren die vierbändige Edition Philosophy of Emotion herausgegeben. Wenn wir mit einer Emotion auf etwas reagieren, liegt darin eine feine sinnliche und vom Verstand nicht unbedingt einholbare Einschätzung der Welt. Wie Blaise Pascal formulierte, hat das Herz seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiss. Und was natürlich noch hinzukommt, das ist die Motivationskraft von Gefühlen. Mit der rein wissenschaftlichen Argumentation sind wir also auf dem Holzweg.
Im Sommer wurde das CO2-Gesetz an der Urne versenkt. Die Bekenntnisse zum Klimaschutz an der Klimakonferenz in Glasgow sind vage. Inwiefern kann Naturethik helfen, die Umweltprobleme in den Griff zu bekommen?
Sie kann auf in Vergessenheit geratene, aber doch zentrale und unersetzbare Dimensionen des guten menschlichen Lebens hinweisen und diese mithilfe der Literatur plastisch machen. Man muss die Dinge ausmalen, damit die Menschen begreifen, was auf dem Spiel steht. Das heisst, man muss als Wissenschaftlerin mit Schriftstellerinnen und anderen Menschen kooperieren, die dafür die Sprache und die Bilder haben.
«Die Liebe zur Schönheit der Natur ist ein anderer Zugang als das Schüren der Angst vor den Folgen des Klimawandels.»
Nur so lässt sich der Blick der Menschen öffnen. Und dann ergibt sich vielleicht das, was ich den «Wandel des Herzens» nenne. Wenn dieser Wandel bei genug Menschen eintritt, gibt es noch Hoffnung für uns und die Erde.
Was braucht es aus philosophischer und naturethischer Sicht, damit es der Natur besser geht?
Wir Philosophinnen können davor warnen, dass man aus einem überholten, vor allem gegenüber den Tieren rücksichtslosen Anthropozentrismus heraustretend nicht in das andere Extrem verfällt und nun denkt: «Die Natur weiss eigentlich alles am besten, wir müssen uns ihr unterordnen und sie wird dann schon alles richten.» Selbst wenn dies hiesse, dass wir Menschen dabei auf der Strecke blieben?! Es gibt inzwischen ja schon ökofaschistische Bewegungen. Das finde ich bedrohlich. Was die Philosophie gut kann, auch im Gegensatz zur Literatur, ist aufzuzeigen, welche Möglichkeiten es zwischen diesen Extremen gibt. Welche moralischen Verpflichtungen haben wir gegenüber den verschiedenen Teilen der Natur und warum? Zum Beispiel sollten wir die Tiere, die empfindungsfähig sind, mit uns auf eine Stufe stellen, was Leid angeht, und ihren Lebensraum schützen. Bei Felsen hingegen macht dieser Gedanke nicht viel Sinn. Denn Steine können nichts spüren. Da kommen wir dafür ästhetisch weiter. Die Liebe zur Schönheit der Natur ist ein anderer Zugang als das Schüren der Angst vor den Folgen des Klimawandels. Ich finde, wir sollten mehr auf die Liebe setzen à la: «Schaut doch einmal, wie wichtig Euch das eigentlich ist, und Euren Kindern später vielleicht auch. Also seht zu, dass Ihr das schützt!» Das heisst nicht, dass die Bekämpfung des Klimawandels nicht auch wichtig ist, aber es steht eben viel mehr auf dem Spiel als das Klima.
Sie sagen, der Anthropozentrismus sei falsch. Im eigenen Interesse zu schauen, dass es der Natur gut geht, ist aber auch anthropozentrisch …
Es stimmt, dass da etwas Anthropozentrisches dran ist, aber es stimmt eben nicht ganz. Denn ich setze mich als Mensch in ein Verhältnis zu etwas anderem, das ich schätze, das ich nicht abgreife, sondern dem ich eine eigene Bedeutung zumesse und das ich daher auch bewahre.
Und wenn wir das schaffen, kommt es gut?
Ich denke, wenn immer mehr Menschen es schaffen, in so einem Verhältnis mit der Natur zu leben, also auch anders zu wohnen und zu arbeiten, sich anders zu ernähren, zu kleiden und fortzubewegen, dann werden wir das Immer-weiter-so des Naturverbrauchs nicht mehr mittragen. Nicht nur privat nicht, sondern auch politisch und ökonomisch nicht. Wir werden nach einem anderen Wirtschaftssystem Ausschau halten. In meinem Buch hat es dazu ein ganzes Kapitel.
Sie beschäftigen sich seit 30 Jahren mit Naturethik und sind – so heisst es in der Einleitung – ein «alter Hase» auf dem Gebiet. Sie wären jedoch lieber ein Igel. Weshalb?
Die Igel stehen in der Weltliteratur und auch bei Peter Kurzeck und mir symbolisch für Weisheit, Umsicht und Vernunft im emphatischen Sinne, also nicht nur für Rationalität, sondern auch für Intuition und Gefühl.
«Ich hätte gern schon früher intensiv mit der Literatur zusammengearbeitet und nicht so rational meine Argumente durchdekliniert.»
Erinnern Sie sich an den Spruch des altgriechischen Dichters Archilochos: «Der Fuchs weiss viele Dinge, aber der Igel weiss eine grosse Sache»? Das betont die Fähigkeit der Igel zu einer ganzheitlichen Sicht auf die Welt im Gegensatz zur spezialisierten Schlauheit oder eindimensionalen Rationalität der Füchse. Oder denken Sie an das Märchen der Brüder Grimm vom hochmütigen Hasen und klugen Igel und deren Wettlauf. Dann verstehen Sie, in welchem Sinne ich schon länger lieber ein Igel wäre. Ich hätte gern schon früher intensiv mit der Literatur zusammengearbeitet und nicht so rational meine Argumente durchdekliniert.
Was ist Natur für Sie?
Ich muss jeden Tag mindestens einmal hinaus in die Natur, wenn ich konzentriert forschen und lehren können will. Ich wohne ja so, dass mich mein «Schulweg» an die Universität Basel eine Stunde zu Fuss durch einen Wald führt. Am liebsten arbeite ich sogar unter freiem Himmel. Ich finde es wunderschön, wenn man beim Schreiben oder Lesen auch einmal den Blick schweifen lassen und im Garten umhergehen kann. Wie Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft meinte, verrät sich das «geklemmte Eingeweide» und auch «Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge» verrät sich. Man ist draussen weniger verbissen und wird freier für die Welt. Und man weiss, wie Peter Kurzeck schreibt: «du gehörst mit zum Leben dazu». (Universität Basel/mc/ps)
Zum Buch
In Das Weltbild der Igel verschränken Angelika Krebs, Stephanie Schuster, Alexander Fischer und Jan Müller Philosophie und Naturethik mit Peter Kurzecks Roman Vorabend (2011). Sie wollen mit ihrem Buch aus dem Elfenbeinturm heraustreten und eine der Leserschaft «klare Orientierung für das praktische Leben» bieten.
Die Literatur hilft ihnen dabei, nicht nur den Verstand anzusprechen, sondern auch Emotionen zu wecken und dadurch einen anderen Zugang zu schaffen zur Schönheit der Natur und wie wir Menschen mit ihr umgehen.
Angelika Krebs, Stephanie Schuster, Alexander Fischer, Jan Müller: Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders. Schwabe Verlag, Basel 2021 (240 Seiten).
Universität Basel