Wo liegt die Untergrenze bei Negativzinsen?
Von Dr. Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank. (Foto: VP Bank)
Vaduz – Warum können Zinsen auch negativ sein und wie tief können diese fallen? Diese Fragen beschäftigen derzeit Anleger. Da Erfahrungswerte fehlen, müssen vorerst theoretische Antworten reichen. Ein erster Blick genügt, um festzustellen: Es kann auch noch tiefer als derzeit in den roten Bereich gehen – theoretisch zumindest. Wir gehen jedoch davon aus, dass das Zinstief hinter uns liegt.
Noch nie waren die Nominalzinsen in Europa tiefer als derzeit. Der Anteil der Geldmarktinstrumente und Obligationen, die eine negative Rendite tragen, ist in Europa dramatisch angestiegen.
Da sich bei null offensichtlich (doch) nicht die untere Grenze für Nominalzinsen befindet, stellt sich die Frage, ob und wo eigentlich eine untere Barriere zu finden ist. Prinzipiell hat Geld eine untere Grenze der Verzinsung von Null, vernachlässigt man die Kosten des Haltens von Bargeld. Denn warum sollte man auf einem Konto Negativzinsen erleiden, wenn man als Alternative einfach Geld «unter der Matratze» lagern kann und damit zumindest keine «Strafzinsen» bezahlt?
In der Praxis ist es den Zentralbanken aber dennoch möglich, die Zinsen unter null zu senken, ohne dass die Geschäftsbanken gleich ihr Geld abziehen. Dafür sind dann die Kosten der Versicherung, des Transports und der Lagerung von Geld zu hoch. Eine erste Messlatte für die untere Grenze ist somit das Nominalzinsniveau von Null abzüglich der Lagerkosten der Geldhaltung. Die gesamten Kosten von Bargeldtransaktionen ermittelte die EZB 2012 in einer Untersuchung (ECB 2012: The social and private costs of retail payment instruments). Interessantes Ergebnis ist: Die Kosten von Bargeldtransaktionen belaufen sich auf 2.3 % pro Vorgang. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich somit für den Negativzins eine theoretische Untergrenze von 2.3 %.
Doch der für die Praxis relevante Wert liegt wohl noch deutlicher im roten Bereich. In den weitgehend digitalisierten Industrienationen muss mittlerweile erst eine sehr hohe Hürde überwunden werden, bevor tatsächlich auf Bargeldtransaktionen umgestellt wird. Elektronische Zahlungen sind einfach und schnell. Bequemlichkeit hat eben-falls einen Preis, der quantitativ kaum fassbar ist. Vermutlich liegt also die Untergrenze nicht bei einem Negativzins von 2.3 %, sondern wohl eher im Bereich von 3 %.
Negativzinsen als Preis für Sicherheit
Die bisherige Betrachtung richtete sich auf einen einfachen rechnerischen Vergleich: Negativzinsen wurden die Kosten von Bargeldtransaktionen gegenübergestellt. Dies ist aber nur ein Aspekt. In der komplexen Finanzindustrie existieren verschiedene Geldformen. Sicherheiten nehmen einen geldähnlichen Status ein. Zum Hintergrund: Die Wirtschaftsgeschichte – vor allem auch die jüngere – ist von schweren Krisen gezeichnet. Die Hinterlegung von Finanzgeschäften mit einem Pfand (Collateral) ist von zentraler Bedeutung. Privatanleger kennen Pfandgeschäfte in aller Regel im Rahmen der Immobilienfinanzierung. Als Sicherheit für den Hausbau- oder auch Wohnungskredit fordert die Bank eine Hypothek. Die Grundregel lautet dabei: Je wertbeständiger das Haus oder die Wohnung ist, desto niedriger sind der Risikoaufschlag und damit der Zins. Immobilien scheiden als Pfand in der globalisierten Finanzindustrie aber als Sicherheit aus. Die Handhabung mit Grundbucheinträgen ist umständlich und die Liquidation von Immobilien kann sich im Notfall hinziehen, schliesslich muss erst ein passender Käufer gefunden werden. Für die Finanzwirtschaft zählen hochvolumige Staatsanleihen, die rege gehandelt werden (also liquide sind) von Ländern mit Top-Bonitäten deshalb zu den besten Sicherheiten. Sie können sekündlich ohne komplizierte Urkundenübertragung verkauft werden und die dahinterstehenden Staaten gelten als sicher. Aufgrund ihrer Steuerhoheit wird an der Rückzahlung der Staatsschulden nicht gezweifelt. Zu den Topsicherheiten gehören US-amerikanische Staatstitel, deutsche Bundesanleihen und öffentliche Anleihen der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Ein sicheres Pfand ist mittlerweile eine notwendige Voraussetzung für viele Finanzgeschäfte. Anders formuliert: Ohne sicheres Pfand gibt es meist keinen Marktzutritt bzw. keine Investition. Renditegetriebene Finanzinvesto-ren sind solange bereit, negative Zinsen hinzunehmen, solange der hiermit erkaufte Marktzugang und die erwarteten Gewinne bei einer Investition, die durch das sichere Pfand erst ermöglicht wird, sich rentieren.
Neben den renditegetriebenen gibt es noch die sicherheitsgetriebenen Investoren. Letztere spielen die Hauptrolle. Vorrangig sind dies institutionelle Anleger, die hohe Geldbestände sicher anlegen müssen (sogenannte «Cash Pools»). Dazu gehören insbesondere Geldmarktfonds, Verwalter von Devisenreserven bei den Notenbanken und Unternehmen mit hohen Bargeldreserven. Wie gross diese Cash Pools sind, lässt sich nur schwer quantifizieren. Offizielle Statistiken gibt es nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen gehen jedoch von rund USD 6 Bio. aus. Während es für Privatanleger zumindest bis zu einem gewissen Höchstbetrag eine Einlagensicherung gibt (Schweiz und Liechtenstein: CHF 100‘000; Eurozone: EUR 100‘000), existiert für die Cash Pools keine staatliche Sicherung. Aufgrund der immensen Anlagesumme dieser Investorengruppe erwächst ein sehr hohes Sicherheitsbedürfnis, für das die Verwalter gegebenenfalls auch bereit sind Negativzinsen – als Opportunitätskosten zum fehlenden Einlagenschutz – zu bezahlen. Ob in diesem Zusammenhang eine Knappheit an sicheren Aktiva existiert, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Bei nüchterner Betrachtung des Angebots und der Nachfrage nach Staatsanleihen mit bester Bonität (Rating im höheren A-Bereich) kann keine Knappheit herrschen. Die Bank für Internationale Zahlungsgleich (BIZ) in Basel (die Notenbank der Notenbanken) diagnostiziert aber eine ungleiche Verteilung. Konkret heisst dies: Es gibt einerseits Investoren, die mit sicherem Pfand überausgestattet sind und andererseits Investoren, die nur schwer an sichere Aktiva herankommen. Unter diesem Licht betrachtet, existiert also doch eine Knappheit an Sicherheiten, was dann ebenfalls erklärt, warum Investoren bereit sind, negative Zinsen für sichere Anlagen zu zahlen.
Soviel zur Theorie, nun zur Praxis
Theoretisch sind also noch tiefere Negativzinsen möglich. Doch es spricht einiges dafür, dass das Zinstief hinter uns liegt:
- Die US-Wirtschaft befindet sich auf einem konjunkturellen Erholungspfad. Die US-Notenbank signalisiert deshalb grundsätzlich Bereitschaft zu Zinserhöhungen. Für einen ersten Schritt nach oben werden sich die Währungshüter in Washington aber noch etwas Zeit lassen. Richtung Jahresende dürfte es aber dann soweit sein. Die USA setzen an den globalen Zinsmärkten wichtige Trends.
- Eine Zinserhöhung der Fed dürfte auch auf Europa abfärben. Wenngleich die EZB die Geldmarktzinsen noch über längere Zeit bei null bzw. negativ (Einlagensatz) halten wird, dürfte es mit den Kapitalmarktzinsen zumindest in moderaten Schritten weiter nach oben gehen. Dies gilt auch für die Schweiz. Zwar könnte die SNB bei einer neuen Aufwertungswelle des Franken (wovon wir aber nicht ausgehen) gezwungen werden, noch tiefer in den roten Bereich zu gehen, doch der Trend bei den Kapitalmarktzinsen dürfte ebenfalls moderat fortgesetzt nach oben zeigen.
- Der Ölpreisverfall drückte in den vergangenen Monaten die Inflationsraten in den Industrieländern aber auch in vielen Schwellenländern kräftig nach unten. Der Boden dürfte aber hinter uns liegen. Die von uns erwarteten höheren Ölpreisnotierungen sollten auch die Teuerungsraten wieder in etwas höhere Gefilde führen. Letzteres stützt die These höheren Kapitalmarktrenditen.
Fazit
Aus theoretischer Sicht kann es an den Zinsmärkten noch tiefer in den negativen Bereich gehen. Einerseits ist Bargeldhaltung mit Kosten verbunden die höher sind als die aktuell zu entrichtenden Negativzinsen. Andererseits sind grosse institutionelle Anleger bereit, für Sicherheit einen Preis zu bezahlen. Aus unserer Sicht bleibt aber die Betrachtung im theoretischen Bereich. Das Zinstief sollte hinter uns liegen, die jüngst begonnene Aufwärtsbewegung der Kapitalmarktzinsen sollte sich moderat fortsetzen. An den Geldmärkten wird das negative Vorzeichen allerdings in der Schweiz und in der Eurozone noch einige Zeit stehen bleiben. (VP Bank/mc/ps)