Wo waren eigentlich unsere Volksvertreter in der Krise, wo all die 1. August-Heldenbeschwörer und -Brusttrommler?

Wo waren eigentlich unsere Volksvertreter in der Krise, wo all die 1. August-Heldenbeschwörer und -Brusttrommler?
Temporärer Nationalratssaal in in der Berner Messe Bernexpo.

Gut sechs Wochen lang haben sich die demokratisch gewählten, mit umfassenden Gestaltungsmöglichkeiten und finanziellen Mitteln ausgestatteten Parlamentarier hinter dem Bundesrat praktisch unsichtbar gemacht, sind unter die Wahrnehmungsgrenze geschrumpft. Die grösste politische Leistung des Parlaments scheint die vorbehaltlose Unterstützung des Bundesrates nach dem Ergreifen des Notrechts gewesen zu sein. Jetzt nimmt das Parlament seinen Betrieb teilweise wieder auf.

Von Helmuth Fuchs

Die Arbeit des Bundesrates und das umsichtige Vorgehen, vor allem zu Beginn der Krise, verdient unseren Dank und hat viel dazu beigetragen, dass das primäre Ziel, der Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung, erreicht wurde.

Besatzung zuerst in den Rettungsbooten
Das sollte jedoch nicht den Blick dafür verschleiern, dass die Krise, obwohl sie nicht im eigentlichen Sinne staatsgefährdend war, unsere demokratischen Institutionen und Abläufe umgehend lahm legte. In einer Krise wäre eigentlich die Erwartung, dass nicht die Besatzung sich als erste in die Rettungsboote setzt, sondern mit dem Kapitän die Notfallpläne umsetzt. Unsere direkte Demokratie, auf die wir zu Recht stolz sind, hat im Vergleich zu den politischen Systemen in anderen Ländern oder zu der viel gescholtenen EU, Schiffbruch erlitten. Ohne Abstimmung in den beiden Kammern, ohne Möglichkeit der Bevölkerung, sich zu äussern, wurde dem Bundesrat sämtliche Verantwortung und eine praktisch unbeschränkte Macht übertragen.

Schönwetterdemokratie für Un-Souveräne?
Fundamentale Bürgerrechte wie die Rechtsgleichheit, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit oder die Wirtschaftsfreiheit wurden ausgesetzt und werden auch jetzt noch zurück behalten. Zwar tagt heute das Parlament wieder und deponiert den Dank an den Bundesrat und Forderungen aus ihrem Parteiprogramm, sowohl die ausserordentliche Lage nach dem Epidemiegesetz als auch das Notrecht bestehen jedoch weiter.

Als Bürger fühle ich mich irgendwie verlassen, ein wenig verraten. Zwar ist das Parlament in seiner sprachlichen Bedeutung eine «Schwatzbude» (parler, parlement), trotzdem erwarte ich, dass die Parlamentarier als gewählte Vertreter die Rechte von Volk und Ständen auch in einer Krise ausüben. Ich mag nicht bewundernd klatschen, wenn der Bundesrat über all die Dinge im Alleingang entscheidet, die eigentlich mir als Teil des «Souveräns» obliegen. Souverän wäre ich eben nur, wenn ich auch in einer Notlage ernst genommen würde. Die sonst so oft beschworene Schwarmintelligenz wird in einer echten Krise umgehend ersetzt durch sieben Bundesräte.

Notfallpläne statt Notrecht
Die jetzt statt findende Pandemie wurde ausgelöst durch ein Virus, das nicht völlig unerwartet kam und für dessen Bekämpfung es einen ausführlichen Pandemieplan gibt. Die Umsetzung eines Pandemieplans und auch anderer Notfallpläne muss innerhalb der bestehenden demokratischen Strukturen möglich sein, ohne dass dafür jedes Mal zu Notrecht gegriffen werden muss.

Es wird in Zukunft weitere Viren geben, potentiell gefährlicher und aggressiver, es wird auch grössere Bedrohungen geben, welche für alle Altersgruppen in gleichem Masse lebensgefährdend sein können. Wird dann jedes Mal die Demokratie über Bord geworfen, werden dann jedesmal die Grenzen geschlossen, die Grundrechte ausgesetzt und die Parlamentarier durch nicht gewählte Beamte und Experten ersetzt?

Unsere Demokratie benötigt ein Krisen-Update
Unsere Demokratie benötigt ein umfassendes Krisen-Update, wenn wir in Zukunft besser vorbereitet sein und Krisen souveräner bewältigen wollen. Die direkte Demokratie ist die Einbindung sämtlicher Bürger, unabhängig von Alter, Religion, Hautfarbe, Herkunft, Wirtschaftskraft, Gesundheit oder Vermögen und daher die beste Garantie, dass Entscheidungen inklusiv, ausgeglichen und im Sinne der BürgerInnen sind. Die Delegation sämtlicher Verantwortung und Macht an ein Siebnergremium, wie umsichtig dieses auch agieren mag, ist ausser bei Ereignissen, welche für das Funktionieren des Staates und das Überleben der Bevölkerung existenzbedrohend sind, ein Eingeständnis des Scheiterns. Das Coronavirus hat kaum die zum Notrecht erforderliche Bedrohungslage erreicht.

Als Bürger hoffe ich, dass die Parlamentarier sich wieder ihrer Aufgabe besinnen, der Bundesrat umgehend den politischen Normalbetrieb ermöglicht und das Notrecht beendet.

Und am 1. August sollten sich die politischen Festredner weniger in mythischen Heldentaten der Vorväter sonnen, sondern überlegen, wie sie selbst in der nächsten Krise eine kleine Heldengeschichte schreiben, statt sich wegzuducken.


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