Zürich – Ab Mittwoch wird in Montreal an der wichtigsten Uno-Konferenz zur Biodiversität (CBD COP15) seit 2010 um neue globale Ziele gerungen. Auch die Schweiz setzt sich für ehrgeizige Beschlüsse ein. Innenpolitisch drohen dagegen Rückschritte beim Naturschutz.
- Die Schweiz ist europaweites Schlusslicht. Die Rote Liste der gefährdeten Arten wird in der Schweiz immer länger. Ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten sind bedroht.
- Obschon die Biodiversität unsere Lebensgrundlage ist, hat ihr Schutz für die Schweizer Politik keine Priorität. Aufgrund von kurzfristigen Partikularinteressen in der Land- oder Energiewirtschaft werden Schutzbestimmungen aufgeweicht und ökologische Fortschritte ausgebremst. So gehen immer mehr Arten verloren.
- Um das Massensterben aufzuhalten, sind wirkungsvolle Massnahmen dringend nötig: eine standortangepasste, umweltfreundlichere Landwirtschaft, ein rascheres Tempo bei der Renaturierung unserer Gewässer und der Aufbau und Unterhalt einer nationalen Infrastruktur von ökologisch wertvollen Flächen.
Die Artenvielfalt nimmt weltweit rapide ab: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind laut Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) vom Aussterben bedroht. Die Wildtierpopulationen sind seit 1970 um 69 Prozent zurückgegangen. Das an der CBD-Konferenz zu verabschiedende Abkommen muss die Welt auf einen neuen Kurs bringen. Dazu beitragen sollen ehrgeizige Beschlüsse – etwa der Erhalt von 30 Prozent der Land-, Süsswasser und Meeresökosysteme und die Wiederherstellung bereits zerstörter Ökosysteme bis 2030.
Die Schweiz wird sich für «ambitionierte, messbare und präzise» Ziele einsetzen. Während der Schutz der Biodiversität auf globaler Ebene also verstärkt werden soll, geht die Innenpolitik in die andere Richtung:
Energiepolitik:
Die Biotope von nationaler Bedeutung beherbergen auf nur 2 Prozent unserer Landesfläche ein Drittel aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten. Sie zu erhalten und aufzuwerten ist notwendig, um dem fortschreitenden Verlust an Arten und Lebensräumen zu begegnen. Doch nun steht sogar der Erhalt dieser auch für den Menschen besonders wertvollen Gebiete auf der Kippe: Denn der Ständerat hat den besonderen Schutz dieser Biotope zugunsten des Baus von Anlagen für die Energiegewinnung im Rahmen der Beratungen zum Mantelerlass (Energie- und Stromversorgungsgesetzsrevision) gestrichen. Wird dieser Schutz definitiv aufgehoben, hätte dies irreparable Schäden an der Natur zur Folge. Das Artensterben in der Schweiz würde weiter angeheizt. Klimawandel und Biodiversitätskrise dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern verlangen nach gemeinsamen Lösungen. So helfen uns die Biotope im Kampf gegen die Erderhitzung: Sie schützen vor Hochwasser und Trockenheit, reinigen das Wasser und speichern CO2. Auch die minimalen Überlebenswassermengen werden politisch angegriffen. Dies, obschon unsere Flüsse und Bäche durch die Klimaerhitzung bereits heute unter Trockenheit leiden. 75 Prozent aller einheimischen Schweizer Fisch- und Krebsarten sind gefährdet oder sogar ausgestorben (siehe Grafik unten).
Landwirtschaftspolitik:
Der Bundesrat und die Wirtschaftskommission des Ständerates empfehlen, die ursprünglich vorgesehenen Umweltmassnahmen in der neuen Agrarpolitik AP22+ zu streichen. Dies ist ein unverständlicher Rückschritt, da gegenwärtig immer noch keines der 13 Umweltziele für die Landwirtschaft erreicht wird. Das sind nicht irgendwelche Ziele, sondern geltendes Umweltrecht. Auch bei der Reduktion von Pestizid-Risiken und Nährstoff-Überschüssen häufen sich die Forderungen nach einem Rückschritt: So wollen mehrere Vorstösse die Umsetzung des informellen Gegenvorschlags schwächen. Dieser wurde der Bevölkerung bei der Abstimmung über die Pestizid-Initiativen im Juni 2021 versprochen.
Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative:
Zurzeit hat das Parlament im Rahmen der Beratungen des indirekten Gegenvorschlags zur Biodiversitätsinitiative eine einmalige Chance, dem Biodiversitätsverlust in der Schweiz Einhalt zu gebieten. Dieser sieht den Aufbau eines funktionierenden und langfristig gesicherten Netzwerks an ökologisch wertvollen Flächen vor, die sogenannte ökologische Infrastruktur. Erste Bestrebungen im Parlament, lediglich bestehenden Flächen ein neues Etikett aufzudrücken statt neue Flächen unter Schutz zu stellen, sind erst mal gescheitert. Nun kommt das Geschäft in die ständerätliche Umweltkommission. Diese muss den Herausforderungen gerecht werden.
Der Handlungsbedarf in der Schweiz ist enorm: Die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten sind bedroht. Nicht einmal den internationalen Verpflichtungen kommt das Land nach. So stellt die Europäische Umweltagentur (EUA) in ihrem Umweltbericht 2020 fest: «Das schlechteste Ergebnis erzielt die Schweiz bei der Biodiversität: Sie hat von allen europäischen Ländern den niedrigsten Anteil an Schutzgebieten im Verhältnis zur Landesfläche.»
Den hiesigen Stellenwert des Artenschutzes beschreibt der Satz in einer kürzlich veröffentlichten Medienmitteilung der Wirtschaftskommission des Nationalrates treffend: «Wir befürworten Biodiversität, aber …» Bei diesem «Ja, aber» kommt die Natur immer erst an zweiter Stelle. Dabei sind die kostenlosen Dienstleistungen einer intakten Biodiversität für uns überlebenswichtig: Bestäubung, Bodenfruchtbarkeit, Wasserreinigung, CO2-Speicherung, Hochwasserschutz.
Einen verstärkten Schutz der Biodiversität wünscht sich auch die Bevölkerung: In einer repräsentativen GFS-Umfrage sprachen sich 2021 77 Prozent dafür aus, dass es verbindliche Regelungen braucht, damit sich der Zustand der Schweizer Gewässer nicht verschlechtert. 74 Prozent der Befragten wollen die letzten natürlichen und naturnahen Gewässer besser schützen. Dazu gehören auch Gebiete wie das Val Roseg und das Maderanertal. Sie sind Biotope von nationaler Bedeutung. Der Wunsch der Bevölkerung steht in starkem Widerspruch mit den jüngsten Beschlüssen der Politik. Diese muss ihre Prioritäten endlich richtig setzen.
Weitere Informationen:
SCNAT-Faktenblatt: Was die Schweiz für die Biodiversität tun kann – Handlungsoptionen für ausgewählte Sektoren.