Von Céline Emch, Universität Basel
Basel – In Träumen verschwimmen die Grenzen zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Wirklichkeit und Fantasie. Das inspiriert die Literatur seit der Antike.
Der flämische Humanist Justus Lipsius sitzt in einer Senatssitzung im antiken Rom. Neben ihm diskutieren Gelehrte wie Cicero, Ovid und Varro. Sie sind dabei, einen Verhaltenskodex für ihre Kritiker zu verfassen. Die Sitzung endet abrupt – denn Lipsius ist erwacht. Alles nur ein Traum. Oder? Schnell greift er zu Papier und Stift, um seine Erinnerungen festzuhalten.
Die Faszination für Träume und deren versteckte Bedeutungen begleitet die Menschen seit jeher und spiegelt sich in den grossen Erzählungen seit der Antike. Homers «Ilias» und «Odyssee», Virgils «Aeneis» oder Dantes «Göttliche Komödie» bieten zahlreiche Beispiele.
«Die literarische Form der Traumerzählungen existiert schon lange, eine eigentliche Konjunktur hatte sie jedoch im Humanismus, wo sie uns auch in satirischem Gewand begegnen», erklärt Cédric Scheidegger Lämmle, Professor für Latinistik an der Universität Basel.
Denken, was sonst undenkbar bleibt
Zu diesen satirischen Traumerzählungen gehört Justus Lipsius’ «Somnium» (1581), das besonders grossen Erfolg hatte. Oft in einer bunten Mischung aus Prosa und Dichtung verfasst, dem sogenannten Prosimetrum, folgen sie jeweils einem ähnlichen Plot: Der Erzähler, oft ein Gelehrter oder Dichter, begegnet in der Traumwelt bedeutenden Persönlichkeiten der Vergangenheit, mit denen er sich unterhält. Nach dem Aufwachen dokumentiert er seine Erlebnisse.
Gemeinsam mit der Londoner Latinistin Gesine Manuwald untersucht Scheidegger Lämmle solche Traumgeschichten, mit dem Ziel, das erwähnte «Somnium» in einer kommentierten Neuausgabe mit Übersetzung zugänglich zu machen. Die Forschenden stellen Lipsius’ Werk dabei eine zweite Traumerzählung gegenüber, nämlich die Verse des heute kaum bekannten italienischen Renaissance-Dichters Francesco Ottavio (auch Cleophilus genannt). So soll das entstehende Buch auch die vergleichende Betrachtung der Texte erleichtern.
«Was die beiden Werke miteinander verbindet, ist das Spiel mit der Bedeutung der Träume; in der Traumwelt wird das Unmögliche möglich und es kann gedacht werden, was sonst undenkbar bleibt», so Scheidegger Lämmle.
Versteckte Kritik an der Gegenwart
So begegnen sich in den Traumwelten – wie in der verwandten Vorstellung von der Unterwelt – verstorbene und lebende Personen. Lipsius etwa, der am Ende des 16. Jahrhunderts lebt, trifft im Traum sowohl die grossen Autoren der Antike als auch seinen Freund und Zeitgenossen Ianus Dousa, und alle nehmen gemeinsam an der Sitzung des römischen Senats teil, die der Erzählung ihren Rahmen gibt.
Es geht aber nicht darum, dass der hehren Antike gehuldigt werden soll. Lipsius bringt vielmehr Anliegen der Gegenwart zur Sprache. Zum Schluss verabschiedet der Senat komisch überzeichnete Gesetze für die Kritiker der Gegenwart, die sich in Lipsius’ Zeit mit der antiken Literatur beschäftigen. So wird beispielsweise festgelegt, dass man Textkritik nur im Alter zwischen 25 und 60 Jahren betreiben dürfe.
Wozu dienen Traumgeschichten also? «Der Rahmen des Traums ermöglicht fantastische Begegnungen mit der antiken Literatur und ihren Schöpfern», meint Scheidegger Lämmle. Hat der Held eine Frage, taucht er in eine Traumwelt ein, wo Personen aus unterschiedlichsten Zeiten wie in einem Archiv an einem Ort versammelt sind und dem Suchenden mit Rat zur Seite stehen. Solche satirischen Träume bieten Raum für Kritik an Entwicklungen der Gegenwart, ermöglichen Gedankenexperimente und dienen der Selbstreflexion – stets mit einem Augenzwinkern. (Universität Basel/mc/ps)
Cédric Scheidegger Lämmle
ist seit Anfang 2024 Professor für Latinistik am Departement Altertumswissenschaften der Universität Basel.
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