BlackRock – Aktueller Blick auf die Märkte: Knirschen im EU-Gebälk

Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock. (Foto: zvg)

Zürich – Spätestens seit den schockierenden Verbrechen an der Zivilbevölkerung, welche abziehende russische Soldaten offenbar in Butscha und anderen Vororten Kiews begangen haben, rangiert Russlands Überfall auf die Ukraine weit oben auf der Liste der schlimmsten Kriegsgräuel in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Für die EU im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen verschärft sich damit die Frage, wie man mit einem Kriegsverbrecher wie Putin weiter Geschäfte machen kann.

Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock

Selbst wenn dies schwerste ökonomische Verwerfungen, inklusive einer tiefen Rezession zur Folge hätte, erscheint der Gedanke unerträglich, dem Massenmörder im Kreml jeden Tag Hunderte von Millionen an Euro und Dollar in die Kassen zu spülen. Schon jetzt zeigt sich, dass es mit der gern zur Schau gestellten europäischen Einigkeit im Angesicht des Krieges nicht so weit her ist. Dies beginnt schon bei der EU-Führung, innerhalb derer die Rivalität zwischen Kommissionspräsidentin Von der Leyen und ihrem grotesk geltungshungrigen Widersacher, Ratspräsident Michel, wichtiger zu sein scheint als eine gut abgestimmte Reaktion auf Putins Angriffskrieg. Auch das ungarische Wahlergebnis vom Wochenende ist ein schlimmes Zeichen europäischer Uneinigkeit. Denn während sich die EU und deren Mehrheit rühmt, in der Ukraine auch die Freiheit Europas zu verteidigen, hat der Putin-freundliche Nationalist Orban offenbar Medien, Justiz sowie Bildungssystem – und damit entscheidende Kanäle zur Manipulation des Wahlvolks – hinreichend gleichgeschaltet, um einen Erdrutschsieg und eine Zweidrittelmehrheit im Parlament einzufahren. Angesichts der Frage, wie lange sein von Korruption gebeuteltes Land noch Mitglied der EU bleiben kann, richten sich umso mehr Hoffnungen auf Frankreich. Dort verkürzte sich zwar zuletzt die Führung Emmanuel Macrons auf Marine Le Pen im Präsidentschaftsrennen. Aber nach wie vor stehen die Chancen gut, dass der überzeugte Europäer Macron sowohl die erste Wahlrunde am Sonntag (10. April) als auch die Stichwahl zwei Wochen später gewinnt und damit in den grössten drei Volkswirtschaften der EU Befürworter einer tieferen Integration Europas an der Regierung bleiben.

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Alternativlosigkeit und Hoffnung prägen Aktienkurse

Derweil stehen die Kurse europäischer Aktien inzwischen wieder höher als zum Zeitpunkt von Russlands Invasion am 24. Februar. Hierbei scheint neben einer gewissen Alternativlosigkeit (die Realzinsen sind weiterhin extrem niedrig, ausserdem können Aktien bis zu einem bestimmten Punkt Portfolios gegen steigende Inflation immunisieren) auch immer wieder die Hoffnung Ausdruck zu finden, es möge schon nicht so schlimm kommen. Aber angesichts der immer schlimmeren Gräueltaten der russischen Armee, der realistischen Aussicht für Putin, substanzielle Teile der Südostukraine inklusive der Landverbindung zwischen Donbass und Krim dauerhaft halten zu können sowie den nach wie vor weit auseinanderliegenden Positionen bei den „Friedensverhandlungen“ erscheint die Aussicht auf ein baldiges Kriegsende fraglich. Und mit jedem Tag, den der Krieg länger dauert, wächst die Wahrscheinlichkeit weiter steigender Energiepreise, unterbrochener Lieferketten und nackter Angst bei Unternehmen und Verbrauchern. Und sollten weitere Verbrechen der russischen Armee und/oder erzwungene Rubelzahlungen den sprichwörtlichen Gashahn vollends zudrehen, dürfte eine schwere Rezession nicht zu vermeiden sein. Damit steht Europa deutlich anfälliger da als die Vereinigten Staaten. Nach Berechnungen von Kollegen des BlackRock Investment Institute (BII) betrugen zuletzt die Energieaufwendungen in Europa sage und schreibe 9,1% des BIP – im Vergleich zu nur 4,4% in den USA. Die Gewinne europäischer Unternehmen wurden seit Jahresbeginn bereits um rund 6% abwärts revidiert, im Gegensatz zu Aufwärtskorrekturen bei den Gewinnerwartungen ihrer US-Pendants um rund 8%. Selbst wenn Europas Firmen rund die Hälfte ihrer Erträge in anderen Teilen der Welt generieren, dürften sie unter dem Krieg und der allgemeinen Gemengelage stärker leiden als US-Unternehmen. Für uns Grund genug, europäische Aktien taktisch auf neutral zurückzunehmen – weitere Rückstufungen nicht ausgeschlossen.

Inverse US-Zinskurve: Interessante Anekdote oder konkrete Rezessionsdrohung?

Ende letzter Woche stieg die Rendite zweijähriger US-Staatsanleihen auf 2,45%, sechs Basispunkte über der Zehnjahresrendite. Damit wurde die Kurve zum ersten Mal seit 2019 wieder invers. In den bisher acht Inversionen seit den späten 1970ern waren inverse US-Zinskurven mit nur einer Ausnahme (1998) Vorboten einer Rezession. Droht die Logik, der zufolge eine inverse Kurve auf eine drastisch straffende und damit die Konjunktur abwürgende Fed hindeutet, auch diesmal wieder? Kann sein, muss aber nicht. Denn einerseits preisen die Fed Funds Futures in der Tat eine sehr kernig einbremsende US-Notenbank ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass bis zum übernächsten FOMC-Meeting der Leitzins um mindestens 100 Basispunkte höher steht als heute, beträgt gemäss Futures-Preisen 78%. Auch unsere BII-Hausmeinung geht von schnellen weiteren Schritten und einer Fed Funds Target Rate von 2% zum Jahresende aus. Dies alles wäre aber noch mit einer Normalisierung der Geldpolitik vereinbar. Erst wenn die Fed den Leitzins deutlich über den neutralen Bereich hinaus anheben würde, wäre monetäre Restriktion und damit eine drohende Wachstumsbeeinträchtigung gegeben. Genau dies aber erwarten wir derzeit nicht. Zudem gut möglich, dass der Fed ein Eindämmen der Inflationserwartungen dank „Frontloading“ der ersten Zinsschritte schon vor dem Erreichen des neutralen Zinses gelingt. In diesem Fall könnten die Geschichtsbücher eine weitere Episode erleben, in der die Märkte trotz inverser US-Kurve mit einem blauen Auge davonkommen.


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