Zürich – Gemäss Prognosen der Credit Suisse dürfte das Schweizer Wirtschaftswachstum 2020 mit 1,4 % zwar höher ausfallen als 2019 (revidiert auf 0,9 % von 1,1 %), die Beschleunigung wird jedoch durch sportliche Grossereignisse überzeichnet. Immerhin sollte sich die Investitionsgüterindustrie stabilisieren. Eine detaillierte Analyse der Credit Suisse Ökonomen zur Negativzinspolitik der SNB legt dar, dass dieses geldpolitische Instrument eine noch stärkere Überbewertung des Schweizer Frankens zum Euro zu verhindern hilft und darum Bestand haben wird, solange sich die Konjunktur der wichtigsten Schweizer Handelspartner nicht massgeblich bessert.
Die Ökonomen der Credit Suisse prognostizieren für 2020 eine leichte Wachstumsbeschleunigung für das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Allerdings wird dies wegen den Olympischen Sommerspielen und aufgrund der Fussball-Europameisterschaft um rund 0,3 Prozentpunkte überzeichnet – die Lizenzeinnahmen der in der Schweiz ansässigen internationalen Sportverbände (IOC und UEFA) werden dem BIP zugerechnet, obwohl die Aktivitäten ausserhalb der Schweiz stattfinden. Nach dem Rückgang 2019 sollte sich der Ausstoss der hiesigen Investitionsgüterindustrie 2020 stabilisieren. Darauf deutet der von der Credit Suisse in Zusammenarbeit mit procure.ch erstellte Einkaufsmanagerindex (PMI) für die Schweizer Industrie hin. Das Wirtschaftswachstum wird weiterhin vom Privatkonsum getragen, da die Arbeitsmarktlage nach wie vor recht robust bleiben sollte.
Negative Zinsen in der Schweiz als Folge globaler Entwicklungen
Wie die Ökonomen der Credit Suisse in einer vertieften Analyse zur Negativzinspolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) aufzeigen, ist der Trend zu sinkenden Zinsen ein globales Phänomen, das seit Jahrzehnten anhält. Dieser Trend ist einerseits auf die sinkende Inflation zurückzuführen – und in diesem Sinn auf eine erfolgreiche, auf Geldwertstabilität fokussierte Notenbankpolitik weltweit – und andererseits auf rückläufige Realzinsen. Letztere sind unter anderem eine Folge der demografischen Alterung, des geringeren Produktivitätswachstums, einer zum Teil zyklisch bedingt hohen Sparneigung und einer eher geringen Investitionsnachfrage. Auf diese reale Komponente der Zinsen haben die Zentralbanken von grossen Währungsräumen, wie die US-Notenbank (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB), nur vorübergehenden Einfluss.
Beschränkter Spielraum der SNB bei Bestimmung der Zinsen
Der Einfluss der SNB auf die Langfristzinsen (Obligationen) hierzulande ist gering – gemäss den Ökonomen der Credit Suisse dominiert hierbei der Einfluss des Zinsniveaus im Ausland. «Hinzu kommt, dass sich die SNB mit dem sogenannten geldpolitischen Trilemma konfrontiert sieht», so Oliver Adler, Chefökonom Schweiz der Credit Suisse: «Sie muss zwischen der Steuerung der Leitzinsen und des Wechselkurses wählen, sofern sie nicht – als dritte Option – den Kapitalverkehr zwischen dem Ausland und der Schweiz unterbinden möchte. Letztere Massnahme wäre für die Schweizer Wirtschaft und den Finanzplatz fatal».
Seit Ausbruch der Finanzkrise stellen starke Aufwertungsschübe des Schweizer Frankens immer wieder eine Bedrohung für die konjunkturelle Entwicklung und die Preisstabilität hierzulande dar. Um den Wechselkurs nach der Aufgabe der EUR/CHF-Untergrenze zu stabilisieren, entschied die SNB Anfang 2015, die Zinsen unter jene in der Eurozone, also in den negativen Bereich zu senken. Während der Zusammenhang zwischen Zinsdifferenz und Wechselkurs auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist, zeigen empirische Analysen, dass eine Ausweitung des Zinsunterschieds zum Euroraum weiterhin zu einer Abschwächung des Schweizer Frankens führt.
Negativzinsen bleiben bis auf Weiteres bestehen
Aktuell ist der Schweizer Franken gegenüber dem Euro gemäss Schätzungen der Ökonomen der Credit Suisse um etwa 10 % überbewertet (EUR/CHF-Fair Value: 1.22). Für viele Exportbranchen liegt dieser Wert noch deutlich höher. Gleichzeitig gibt es nur wenige Anzeichen, dass die Geldpolitik der SNB derzeit zu expansiv ist: So liegt die Inflation am unteren Rande des Zielbands, das Wirtschaftswachstum ist verhalten und der Verlauf der Zinskurve neutral. Einzig die sogenannte Kreditlücke, das heisst der Abstand zwischen dem Trend des Kreditwachstums und des Wirtschaftswachstums, deutet auf eine lockere Geldpolitik hin. Dennoch scheint eine Straffung der Geldpolitik derzeit noch nicht angebracht. Insbesondere könnte eine autonome Erhöhung der Leitzinsen durch die SNB zu einer sprunghaften Aufwertung des Schweizer Frankens führen und Exporteuren sowie der gesamten Volkswirtschaft beträchtlich schaden. Zudem würde ein derartiger Schritt die Inflationserwartungen und damit die langfristigen Zinsen tendenziell drücken. Der Ausstieg aus dem jetzigen geldpolitischen «Regime» scheint den Ökonomen der Credit Suisse somit erst dann möglich, wenn die Zinsen an den internationalen Kapitalmärkten steigen und insbesondere die EZB ihre Zinsen erhöht. Dies wäre wohl nur der Fall, wenn das globale Wachstum oder die Inflation markant anziehen würden. Beides scheint noch über längere Zeit als unwahrscheinlich.
Gewinner und Verlierer der tiefen, respektive negativen Zinsen
Als Nutzniesser der tiefen Zinsen identifizieren die Ökonomen der Credit Suisse den Staat, beziehungsweise die Steuerzahler. Dazu schätzen die Credit Suisse Ökonomen, dass Bund und Kantone zwischen 2008 und 2017 insgesamt rund CHF 23 Mrd. an Zinsen eingespart haben, davon alleine CHF 13 Mrd. beim Bund. Demgegenüber sind die Auswirkungen sinkender Zinsen auf die privaten Haushalte insgesamt nicht eindeutig ersichtlich: Einerseits reduzieren sich die Zinsen auf Schulden, das heisst vor allem auf Hypotheken. Andererseits müssen die Privathaushalte tiefere Einnahmen auf ihren Sparkonten und Obligationen in Kauf nehmen. Die Ökonomen der Credit Suisse schätzen, dass sich die zwei Werte derzeit in etwa die Waage halten, wobei Haushalte mit höheren Einkommen, die Schulden aufnehmen können und bei Anlagen eine höhere Risikofähigkeit aufweisen, tendenziell von den tiefen Zinsen profitieren.
Die Negativzinspolitik der SNB betrifft die Pensionskassen direkt hinsichtlich der von ihnen gehaltenen Liquidität (rund 5 % des Vermögens). Indirekt verschärfen die tiefen Obligationenrenditen – zu denen die Negativzinspolitik der SNB ebenfalls beiträgt – das Hauptproblem der Pensionskassen, nämlich die zu hohen Umwandlungssätze beziehungsweise das zu tiefe Pensionsalter.
Die grössten Risiken, welche von den tiefen Zinsen ausgehen, betreffen den Immobilienmarkt, mögliche Kapitalfehlallokationen und steigende Schulden. Während in den vergangenen Jahren vor allem von institutionellen Anlegern viele Mietwohnungen gebaut wurden und die Leerstände weiter steigen, hat das Bauvolumen im Vergleich zum BIP seit der Finanzkrise nicht übermässig zugenommen. Hingegen sind die Preise von Immobilien, vor allem von Eigentumswohnungen, seit 2008 wesentlich stärker gestiegen als der Konsumenten- oder der Mietpreisindex. Dies dürfte primär eine Folge der rückläufigen Hypothekarzinsen gewesen sein, welcher zu einem starken Anstieg der Haushaltverschuldung und damit der Nachfrage nach Wohnbesitz geführt hat. Auch hier war wiederum der Einfluss der Langfristzinsen dominierend. Der starke Anstieg der Haushaltsschulden und der Immobilienpreise stellen ein potenzielles Stabilitätsrisiko für die Schweiz dar.
Die exakten Kosten, die aufgrund der Negativzinspolitik der SNB bei den Banken anfallen, sind schwierig zu ermitteln. Die Banken waren bei der Weitergabe der Negativzinsen auf Kundeneinlagen und Kreditzinsen bisher zurückhaltend. Angaben diverser inländischer Banken ergeben deshalb ein uneinheitliches Bild zur Wirkung von Änderungen im Zinsniveau. Beispielsweise gibt es keine Hinweise darauf, dass die Negativzinsen die Kreditvergabe der Banken beeinträchtigt haben. Eine verbreitete Weitergabe von Negativzinsen an die Kunden würde negative Effekte aber verstärken.
Die Ökonomen der Credit Suisse haben zudem berechnet, welche Gewinne aus den stark gestiegenen Devisenreserven der SNB zu erwarten sind. Demnach ist in den nächsten fünf Jahren mit Erträgen von jährlich CHF 18 bis 20 Mrd. zu rechnen – in einem Krisenszenario allerdings auch mit einem Verlust von CHF 75 Mrd. Dennoch könnte durchaus eine Erhöhung der jährlichen Gewinnausschüttung an Bund und Kantone in Betracht gezogen werden. (Credit Suisse/mc/ps)