Derivatmarkt Schweiz: Zeitenwende

Von Martin Raab und Daniel Manser , Derivative Partners Media AG, www.payoff.ch

In der Finanzindustrie ticken die Uhren in vielerlei Hinsicht zunehmend anders. Die Neuerungen umfassen die Regulierungsfront, Produktdokumentationen und die Besicherung Strukturierter Produkte. Ein aktuelles Stimmungsbild der sich wandelnden Branche.

Ob das Timing für den bekannten Börsianerspruch «Sell in May, and go away» dieses Jahr eine Weisheit oder Dummheit ist, bliebt vorerst offen. Am Markt sind – nach letzten Zahlen – die Gesamtumsätze in Strukturierten Produkten zurückgegangen. Die SIX Structured Products Exchange meldet für März einen Umsatzrückgang von 17% auf CHF 2,4 Milliarden. Während der börsliche Handel um 7,23% zulegen konnte, erlitt der ausserbörsliche Handel zuletzt eine Einbusse von 52,38%. Die Zeit für grosse Tickets scheint erst noch zu kommen.

Lobbyerfolge dank EUSIPA

Realität geworden sind währenddessen die bis zur letzten Minute verhandelten Regeln für Retail-Anleger, welche ab 2016 für in der EU vertriebene Strukturierte Produkte gelten. Schweizer Emittenten sind seit Jahren in der EU aktiv und haben die Ergebnisse mit Hochspannung verfolgt. Nun sind die Würfel gefallen: So wird es unter PRIIPS (Packaged Retail and Insurance-based Investment Products), anders als noch vom EU-Parlament geplant, keine Produktverbote von komplexen Strukturen geben. Der berüchtigte Artikel 13f ist damit, dank des sehr aktiven Lobbyings des europäischen Derivatverbandes EUSIPA, vom Tisch.

Keine Produktverbote

«Es ist sehr erfreulich, am Ende die Gesetzgeber vom Sinn der Produktvielfalt überzeugen zu können – auch wenn es nicht immer einfach war», erläutert Thomas Wulf, EUSIPA-Generalsekretär. Als Einziger hat sich EUSIPA von Anfang an öffentlich und mit sehr klaren Positionen für die Interessen der Emittenten bei diesem Dossier eingesetzt. «Ein Schönheitsfehler zum Beispiel ist, dass wir bei den KIDs (Key Information Documents –d.R.) die Ausnahme für Selbstentscheider nicht durchsetzen konnten. Auch proaktiven Privatanlegern, die eigentlich auf bankseitige Beratung verzichten wollen, muss daher ab 2016 zwingend ein KID für jedes gehandelte Produkt übersandt werden», ärgert sich Wulf.

Tickende Praxisbombe

Wie so oft tauchen die Probleme nun bei der konkreten Umsetzung auf. Ein Beispiel: Wer als ausländischer (Nicht-EU-)Emittent in der EU künftig ein Finanzprodukt zum öffentlichen Vertrieb anbietet, muss zwingend ein KID vorhalten. Viele international tätige Anbieter werden sich vom regulatorischen Aufwand, der sich nach nationalem Recht nochmals unterschiedlich (z.B. in Bezug auf Spracherfordernisse) ausgestaltet, abs   chrecken lassen und im Extremfall ganz auf die Emission von Retailprodukten in der EU verzichten. «Wir werden als europäischer Dachverband im Dialog mit ESMA noch viele Fragen klären müssen – auch und insbesondere mit Blick auf Schweizer Emittenten», prognostiziert Thomas Wulf.

FIDLEG erfordert Kraftakt

Hierzulande läuft der Countdown von FIDLEG (als Spiegelbild der EU-Finanzmarktrichtlinie «Mifid II»). Das neue Gesetz legt Finanzintermediären in der Schweiz wesentlich detailliertere Regeln auf. So wird es u.a. die Pflicht zur Veröffentlichung eines standardisierten – schweizweit identischen – Basisinformationsblattes für Strukturierte Produkte geben. «Selbst wenn unser Gesetzgeber stärker darauf bedacht sein wird, auf unnötige bürokratische Auflagen zu verzichten, werden die neuen Verhaltensregeln den administrativen Aufwand am Point of Sale beträchtlich erhöhen», befürchtet Enrico Friz, lic. Iur., Partner der Anwaltskanzlei Walder Wyss. Problematisch erscheint Friz beispielsweise, «dass jeder, der ein solches Finanzinstrument Privatkunden anbietet, verpflichtet sein wird, das Basisinformationsblatt vor Geschäftsabschluss kostenlos zur Verfügung zu stellen». Gerade wenn rasch auf Marktchancen reagiert werden möchte, könnte das in der Praxis Schwierigkeiten verursachen.

«FIDLEG wird den administrativen Aufwand am Point of Sale beträchtlich erhöhen.»

Schweizer PRIIPS-Lösung

«Über den Inhalt des Basisinformationsblattes ist noch nichts Genaueres bekannt, aber man kann davon ausgehen, dass die wesentlichen Merkmale des Produkts, das Risiko- und Renditeprofil, die maximale Verlustmöglichkeit sowie die Kosten, in standardisierter Form offenzulegen sind», vermutet Jurist Friz. In dieser Situation schlägt die Stunde der Standardisierung der Produktdokumente. Als Praxislösung für die Derivatbranche wäre der CONNEXOR-Anschluss, eine Art zentraler Datentopf der Schweizer Börse, für die Emittenten sicher gut geeignet, um künftig ein schweizweit rechtskonformes PRIIP zu generieren. Zwar tickt die Uhr für Emittenten, doch noch kann die Branche ein gewisses Zeitfenster für die Umstellung von Hausgemacht auf Nationalstandard nutzen. «Da es noch einige offene Punkte gibt, rechne ich mit dem Inkrafttreten von FIDLEG nicht vor 2017», so Enrico Friz.

Strukis schneller als Fonds

Massive Wartezeiten, verursacht durch neue Regulierungsvorhaben, sind seit geraumer Zeit bei vielen Anliegen und Produktfreigaben durch die Aufsichtsbehörden neue Realität geworden. So muss zum Beispiel für eine Zusatzbewilligung bei der FINMA mit acht Monaten Bearbeitungsdauer gerechnet werden. Eine Fondszulassung dauert hierzulande schnellstens drei Monate, ist der Fonds in Luxemburg oder Irland domiziliert, hören viele Initiatoren auf, die Tage bis zur Bewilligung zu zählen. Auch die luxemburgische Aufsichtsbehörde CSSF selbst verstrickt sich in drastische Wartezeiten für UCITS-Vehikel mit EU-Passporting.

Neue Pfandlösung, keine Kommunikation

Diese Nachteile der Fondswelt kann die Derivatindustrie jetzt ganz gezielt zu ihrem Vorteil nutzen. Eine strukturierte Produktidee («Actively Managed Certificate») ist in wenigen Tagen realisierbar – z.B. bei Plain-Vanilla-Baskets oder Indexlösungen. Dank des neuen Triparty Collateral Management (TCM) der Schweizer Börse bzw. SIX Securities Services sind OTC-Geschäfte in Strukturierten Produkten ab sofort extern pfandbesichert und ohne Makel im Vergleich zu Fonds oder auch kotierten COSI-Produkten. Die Kosten hierfür betragen offenbar nur wenige Basispunkte, als Sicherheiten dienen keine zusätzlichen Wertschriften, sondern die Portfolio-Bestandteile werden als eine Art Sondervermögen separiert. Der Struki-Wrapper ist damit – gesamthaft betrachtet – gleichwertig einem Anlagefonds. Das ist eine simple, aber beachtliche Errungenschaft! Auf Nachfrage bei der SIX heisst es hierzu jedoch vielsagend «Kein Kommentar». Man hat sich selbst ein Schweigegelübde auferlegt, zumindest während dem exklusiven Beta-Test der Pilotbank Leonteq Securities.

Leonteq testet OTC-Besicherung

Als einer der grössten Nutzer bzw. Anbieter von börsenkotierten, pfandbesicherten Produkten (COSI) ist die neue Funktion für Leonteq eine Zeitenwende – auch wenn man derzeit noch als exklusiver Beta-Tester für die SIX agiert. Mit TCM bietet man, vorerst exklusiv, ein Besicherungssystem für nicht gelistete Produkte an. Investoren können so das bisherige Emittentenrisiko im Over-the-Counter-Markt deutlich reduzieren. «Wir hinterlegen als Emittentin bei der SIX Securities Services, dem unabhängigen Collateral Manager, ein Pfand, welches im Falles eines Falles verwertet wird. OTC-Geschäfte sind damit ohne Makel im Vergleich zu kotierten COSI-Produkten», so Manuel Dürr, Head Public Distribution bei Leonteq Securities. Das neue Feature soll schwerpunktmässig bei aktiv gemanagten Zertifikaten zum Einsatz kommen. Mit Blick auf die allgemeine Nachfrage zeigt sich in den letzten Tagen bei Leonteq wieder etwas mehr Vitalität. «Mehr Anleger nutzen die jetzt attraktiveren Pricings und Konditionen – im Sekundärmarkt wie auch bei unseren in Zeichnung befindlichen Angeboten. Gerade bei Produkten auf IT-Unternehmen, welche zuletzt herbe Verluste einstecken mussten, sehen wir aktuell viel Nachfrage. Gesucht werden dort bullische, aber auch bearische Strukturen», fasst Simon Przibylla, Co-Head Public Distribution, die Vertriebssicht bei Leonteq zusammen.

«OTC-Geschäfte sind künftig ohne Makel im Vergleich zu kotierten COSI-Produkten.»

UBS setzt auf Zukunftstrends

Nach einem starken Start in das neue Jahr haben die Volumen bei der UBS inzwischen eine eher moderate Grösse angenommen. «Die politischen Unsicherheiten im Krimkonflikt nähren den Appetit der Investoren nach flexiblen Timing-Strategien, wie beispielsweise der UBS RADA-Palette. Vereinzelt nutzt man auch die Opportunitäten mit Produkten auf den russischen Leitindex RDX oder Gazprom», erklärt Robin Lemann, Co-Head Public Distribution Strukturierte Produkte Schweiz bei der UBS die Kundenstimmungen. Auf der Primärmarktseite geben nach wie vor Renditeoptimierungsprodukte den Takt an, vermehrt interessieren sich dabei die Kunden für BRCs mit einem Autocall – nicht zuletzt der höheren Rendite wegen. In der Produktwerkstatt werden die Angebote zu neuen Technologien weiter ausgebaut. «Neben 3D-Druck und Big Data werden wir als Nächstes ein Tracker-Zertifikat auf Robotics und Drohnen lancieren. Auch dieses Segment ist hoch attraktiv für Anleger», so Lemann. Auf den Solactive Robotics & Drones Index wurde bereits vor wenigen Tagen im deutschen Markt ein Tracker der UBS lanciert.

«Opportunistische Anleger kaufen Produkte auf den russischen Leitindex RDX oder Gazprom.»

Ambitionierte Rollout-Pläne bei Vontobel

Ebenfalls stark auf Zukunftsthemen, speziell Technologien, setzt man bei der Bank Vontobel. Die Nachfrage nach Themenanlagen im öffentlichen Vertrieb ist derzeit gut. Auch jüngste Lancierungen wie der Global Spin-off Index und der China Policy Index werden vom Publikum angenommen. Neuerdings bietet Vontobel auch «Factor-Zertifikate» (mit c) an – samt sehenswertem Video. Interessanterweise wurde mit dem DAF in der Börse Frankfurt als Kulisse gedreht, nicht in Zürich. «Nach dem ersten Schwung von rund 150 Factor-Zertifikaten auf mehrheitlich heimische und deutsche Titel folgen in nächster Zeit US-Blue-Chips, danach grosse EuroStoxx-Titel und Edelmetalle», erläutert Eric Blattmann, Head Public Distribution Schweiz, die Rollout-Pläne. Seit wenigen Tagen ist auch sein Kollege Georg von Wattenwyl, Global Head of Financial Products Advisory & Distribution, wieder aus Asien in Zürich zurück. Er war in Singapur und Hong Kong unterwegs. «Wir kommen dort gut voran, Schritt für Schritt, aber konstant. Speziell in Singapur ist gerade die Neuorientierung des Flow-Business im Gang, und da kommen wir mit Deritrade genau richtig», gibt von Wattenwyl eine exklusive Einschätzung. Für den Zielmarkt in Asien hegt man bekanntlich grosse Ambitionen.

Commerzbank fokussiert Faktor-Zertifikate

Als Pionier für Faktor-Zertifikate, im SVSP-Jargon als Constant Leverage-Zertifikat «verdenglischt», kann die Commerzbank in dieser Produktkategorie starke Zuwächse verzeichnen. «Das Volumen in unseren Faktor-Zertifikaten hat sich seit Anfang Jahr sehr gut entwickelt. Monatlich handeln Anleger Produkte im Wert von rund 45 Millionen Franken. Im Vergleich zur Vorjahresperiode entspricht das einer Zunahme von über 20%», klärt Andreas Stocker, Public Distribution Schweiz bei der Commerzbank in Zürich, auf. Bei aktuell gut 640 Papieren möchte man aber längst nicht bleiben. «Faktor-Zertifikate bleiben unser Produkt-Anker», bekräftigt Dominique Böhler, Head Public Distribution Schweiz bei der Commerzbank, die Marschroute. Die unlängst dazugekommen US-Basiswerte mit Hebel 4 – zuvor nur Hebel 3 – bekommen von europäischen Nebenwerten wie Sky, Airbus, ProSieben, Sat.1 und Metro bald Gesellschaft.

Bei Credit Suisse boomen CLN-Sales

Der allgemeine Flow bei Strukis der Credit Suisse (CS) präsentiert sich auf gutem Niveau, aber mit leicht sinkender Tendenz seit Jahresbeginn. Grosser Beliebtheit unter den renditehungrigen Kunden erfreuen sich unisono Credit Linked Notes, kurz CLN. Die CS promotet seit einigen Monaten eine Vielzahl dieser facettenreichen Produkte. Der Rendite-Pickup, erzeugt durch das Kreditrisiko des jeweiligen CLN-Schuldners, lässt Plain-Vanilla-Obligationen vergleichsweise alt aussehen – oftmals das entscheidende Kaufargument. «Credit Linked Notes, derzeit eines der am stärksten nachgefragten Anlageprodukte in unserem Team, sind ohne Zweifel ein Produkttyp mit grossem Potenzial – insbesondere im aktuellen Renditeumfeld. Daneben scheinen sich aber auch Double Coupon Barrier Reverse Convertibles immer mehr bei den Investoren zu etablieren», erläutert Thomas Schmidlin, Managing Director Structured Flow Switzerland bei Credit Suisse. Man plant, auch in den nächsten Wochen weitere CLNs zu lancieren. Auch bei der Plattform mysolutions bleibt man aktiv: «Die Umsätze sind dort besser als letztes Jahr. Zudem wurde mit dem Roll-out des Produktpakets für Corporates mit diversen Währungsmanagement-Lösungen das Angebot nochmals massiv erweitert», so Schmidlin.

«Credit Linked Notes sind derzeit eines der am stärksten nachgefragten Anlageprodukte.»

RBS und Santander bleiben der Schweiz treu

Die Royal Bank of Scotland (RBS) wird in der Schweiz – sobald die Wettbewerbsbehörden grünes Licht zur Teilakquisition final geben – künftig unter dem Markenbild der BNP Paribas Strukturierte Produkte vertreiben. Details hierzu werden in den nächsten Wochen folgen. Wie immer in solchen Situationen wartet auf die Zürcher RBS-Veteranen in jedem Fall viel Fleissarbeit. Einige Extrameilen läuft man derzeit auch beim britisch-spanischen Emittenten Santander UK. Das Top-Management in Madrid bleibt der Schweiz als Zielmarkt für «Retail Structured Products» zwar treu, die Geschäfte werden aber deutlich restrukturiert. So wird Santander UK keine Optionskomponenten mehr für heimische Institutionelle bereitstellen. Personell bleibt Sebastian Steinhauser für den Schweizer Markt verantwortlich. Die jüngsten Gerüchte, für Santander sei die Zeit im Struki-Business abgelaufen, sind damit vom Tisch.

Kurz erklärt:
Finanzkarrieren: Prominente Struki-Köpfe steigen um

An Personalrochaden mangelte es in letzter Zeit nicht. So wird Vincenzo Zinná, bisher bekannter Frontmann bei der Bank Vontobel für deren Tradingplattform deritrade, vorerst in «Freistellung» die Frühjahrssonne geniessen. Seit Oktober letzten Jahres ist Gerhard Meier von der UBS zu Vontobel geholt worden. Meier ist Mitgründer der Plattform Equity Investor und soll die Expansion von deritrade rasant vorantreiben – künftig ohne Zinná. Auch Patrick Rüthemann, Ex-Chef des Struki-Business der Notenstein Privatbank, ist erstmal «raus» und prüft eine Umorientierung. Auf der privaten Ersatzbank – nach eigenem Wunsch – sitzt auch Hans-Georg Vetter, ehemals Leiter Strukturierte Produkte Sales bei der ZKB. Er wird eine Kreativpause nutzen, um die vielen (nicht immer schönen) Eindrücke in der Finanzbranche zu sortieren. Voller Tatendrang, aber ohne Hektik ist unterdessen Hans-Jörg Pütz. Der bekannte Investmentveteran, ehemals in Dienst von u.a. Julius Bär und Sal. Oppenheim, sondiert einen Wiedereinstieg. Indexanbieter und innovative Cross-Asset-Ansätze reizen ihn sehr, das wirklich Passende war aber bisher (noch) nicht dabei. Gemäss einer aktuellen Umfrage von eFinanicalCareers.ch plant jeder zweite Angestellte in der Finanzbranche in 2014 einen Jobwechsel – Umsteigen wird möglicherweise zum Trend.

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