Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Endspiel oder Verlängerung

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Endspiel oder Verlängerung
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Es ist eingetreten, was die wenigsten erwartet haben. Heute Nacht wird Griechenland seine fälligen Schulden an den Internationalen Währungsfond nicht zurückzahlen, und das Hilfsprogramm wird nicht verlängert – offiziell zumindest. Die EZB hält den griechischen Banken zwar vorerst noch die Stange, doch aufstocken möchte sie die Notkredite nicht. Maximal 60 Euro pro Tag kann ein Grieche am Tag noch Bargeld abheben, wenn der Bancomat überhaupt funktioniert.

Da haben Tsipras und Co. dem Volk ganz schön was eingebrockt. Wir haben stets darauf hingewiesen, dass die Märkte Griechenland zu arglos abtun. Doch bis zuletzt zockten die darauf, dass es wieder mal auf einen faulen Kompromiss hinausläuft. Sturheit und eine aufgeraute Stimmung liessen die Verhandlungen platzen. Diese Wendung zwang die Märkte gestern in die Knie.

Politisches Paradoxon
Wegen der – man muss es leider so sagen – naiv draufgängerischen Haltung einer ideologisch verblendeten und sich ereifernden Regierung in Griechenland und eines sich darüber zusehend genervten Establishments in Brüssels scheiterten schlussendlich die Verhandlungen. Nun schielt alles in Richtung griechisches Referendum, das wohl gleichzeitig auch ein Misstrauensvotum für die Regierung Tsipras ist. Denn stimmt das Volk nicht, wie von Tsipras ermahnt, gegen die Auflagen der Gläubigergemeinschaft, ist diese Regierung mit Sicherheit politisch am Ende. Ein Zeichen dafür ist, dass die europäische Exekutive, das griechische Volk zu vermeintlicher Räson ruft und nicht mehr die Regierung. Das ist paradox, doch die griechische Regierung war leider nicht dazu zu bewegen. Die Europäer sollten die Wahl nun aber den Griechen und Griechinnen überlassen. Die haben es schwer genug derzeit und stehen vor einer historischen Abstimmung.

Märkte in Wartestellung
Gestern mussten die Aktienmärkte die schlechten Neuigkeiten erst einmal verdauen. Nachdem sie am vergangenen Freitag im späteren Handelsverlauf noch die Einigung erhofften und daher auch weit über Tagestief schlossen, war gestern der Tag der Realitätsbewältigung. Der nächste Event ist nun das griechische Referendum vom kommenden Wochenende. Bis dahin kann der Markt kaum Richtung finden, weshalb wir an unserer defensiven taktischen Haltung gegenüber Aktien vorerst festhalten.

Wie also geht es weiter?
Sehr wahrscheinlich werden die Märkte ganz unabhängig vom Ausgang des griechischen Referendums bald einmal zum Schluss kommen, dass die Gewissheit obsiegt. Ob also Griechenland einen Weg ohne Euro beschreiten wird oder sich den für die stolzen Griechen demütigenden Auflagen der internationalen Gläubiger beugen wird, ist heute gar nicht mehr die relevante Frage. Es interessiert am Finanzmarkt nur noch, wann es so weit ist. Und was ist, wenn das griechische Votum proeuropäisch ausfällt? Geht dann nicht alles wieder von vorne los? Eben – auch das ewige Gewurstel wurde jüngst negativ eingepreist, ist also kaum eine Lösung. Eine Lösung wäre in der Tat ein Nein der Griechen zu dem aus ihrer Sicht europäischen Zwangsdiktat. Denn dann könnten sich die Märkte wieder dem wesentlichen zuwenden. Und da sieht es gar nicht so schlecht aus. Denn Europa scheint definitiv aus der konjunkturellen Talsohle herauszufinden und hat – bis dies sicher ist – noch geldpolitischen Beistand. In Amerika wird die erste Zinserhöhung später kommen als ursprünglich erwartet und keine Kaskade weiterer Anhebungen nach sich ziehen. Von daher kann die laufende Korrektur schon bald einen taktisch günstigen Zeitpunkt für einen Einstieg in Aktien herbeiführen. Die laufende Woche wird darüber noch keinen Aufschluss geben. Aber wenn die Turbulenzen verzogen sind – nach den Sommerferien. (Raiffeisen/mc/ps)

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