Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Es geht wieder recht hektisch zu an den Finanzmärkten. Auch wenn sich meine Zunft auf der Suche nach Begründungen für den Crash am Ölmarkt wieder einmal überschlägt und teils abenteuerliche Argumente dafür vorträgt, gibt es auch erste Stimmen, die dahinter mehr sehen als ein rein ölmarktspezifisches Phänomen. Die Rohstoffmärkte sind von Natur aus sehr volatil und mit einem hohen spekulativen Element versehen, aber Kapriolen, wie sie im Sommer einsetzten, hat man bis anhin selten gesehen. Marktteilnehmer beobachten die Entwicklung am Ölmarkt skeptisch. Es mehren sich die Befürchtungen einer unerwartet starken globalen Wachstumsverlangsamung.
Fallwinkel und Fallgeschwindigkeit erinnern tatsächlich stark an das Jahr 2008. Nur das Ausmass des seinerzeitigen Preiszerfalls ist noch nicht erreicht. Auch damals begann der Sturzflug des Ölpreises im Juli und kam erst sechs Monate später bzw. drei Monate nach der Pleite von Lehman Brothers zum Stillstand. Von über 140 Dollar korrigierten die Notierungen für Öl auf unter 40 Dollar Ende 2008. Der aktuelle Preiszerfall setzte im Sommer nur unwesentlich früher ein, nämlich im Juni und scheint noch nicht abgeschlossen. Die vermeintliche Unterstützung von 60 Dollar wurde letzten Freitag nach unten durchbrochen. Eines ist schon heute gewiss. Der Zerfall der Ölpreise löst einiges aus.
Pleitekatalysator
So ist Fracking beim heutigen Weltmarktpreis kein rentables Geschäft mehr. Die unzähligen US-Firmen, die in diese Technologie investierten und die am Bondmarkt ausstehende Schulden in Milliardenhöhe aufweisen, dürften nun bald genauso Mühe bekunden, wie die Anbieter, welche auf Ölsand setzten. Ganze Nationen laufen Gefahr, in finanzielle Engpässe zu geraten, namentlich Russland oder Venezuela verlieren täglich Unsummen. Auch im Nahen Osten sehen die grossen Produzenten ihre Deviseneinnahmen drastisch sinken. Es besteht durchaus ein Risiko, dass die Bondmärkte sehr sensibel auf diese Konstellation reagieren und damit auch die Aktienmärkte infizieren. Die sind nach der fulminanten Aufholjagd nach dem Oktoberrückschlag jüngst ohnehin wieder recht nervös unterwegs und mussten am Freitag herbe Verluste einstecken.
Konjunkturspritze
Es bleibt zu hoffen, dass die Märkte die positiven Begleiterscheinungen des Erdölpreiszerfalls ebenso berücksichtigen, anstatt ihn nur als Vorbote einer drohenden Rezession zu fürchten. Der weltweit grösste Erdölverbraucher die USA spart enorm, ebenso wie Deutschland und andere grosse Industrienationen. Die energieintensiven Branchen sind die Hauptprofiteure. Während die Energiegiganten schon den Abbau von Stellen ankündigen, sparen die Stahlindustrie oder die Luftfahrt dreistellige Millionensummen. Generell sind es die erdölimportierenden Industrienationen, die vom billigen Öl profitieren, und das ist für viele von diesen Balsam auf die Wunden, vor allem auch für die krisengeplagten Länder der europäischen Peripherie. Für einmal profitieren sogar die privaten Haushalte sehr direkt von einem Stimmungsumschwung an den Finanzmärkten. Und so wird der Ölpreiszerfall zu einem massiven Konjunkturprogramm für die Weltwirtschaft.
Noch mehr Rückenwind geht allerdings auch nicht mehr. Die Zinsen sind bei null, die Geldschleusen weit geöffnet, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte kommt eher schleppend voran und bremst die Wirtschaft daher kaum – und jetzt noch die massive Entlastung durch tiefere Energiepreise. Wenn die Weltwirtschaft mit diesen Vorgaben nicht endlich auf Trab kommt, dürfte sich die Stimmung an den Finanzmärkten sehr rasch und sehr stark verschlechtern. 2015 wird daher ein entscheidendes Jahr. Die Zeit der geldpolitischen Improvisation läuft ab, zumindest in Amerika und der europäische Patient muss deutliche Zeichen einer Genesung aussenden. Sonst geht den Märkten allmählich der Sprit aus. (Raiffeisen/mc/ps)